Aboriginal Gericht, Teil 1
Morgen geht es zum Gericht. Nein, wir werden nicht verknackt.
Aber warum müssen wir zum Gericht?
Angefangen hat alles in den östlichen MacDonnell Ranges. Wir kamen aus dem Busch und ich war zu faul den Kompressor raus zu kramen um den Reifendruck wieder auf Straßendruck zu erhöhen. In der kleinen Aborigine-Community Atitjere schickte man uns zur Schreinerwerkstatt, die über einen Kompressor verfügt. Mit allem hatten wir gerechnet, aber nicht damit, hier im Nichts eine ordentliche Schreinerei zu finden. An die Wand ist jedes Werkzeug mit seinem Schattenbild gemalt und an der Wand befestigt, auf einen Blick erkennt man welches Werkzeug fehlt und wo es hin gehört. Die Werkstatt sauber und aufgeräumt. Luft für unsere Reifen ist kein Problem. Der Schreiner ist ein Weißer und von der Regierung eingesetzt, um hier diese Lehrwerkstatt zu betreiben. Seit vier Jahren lebt er hier draußen in der Community. Die „Schüler“ sind erwachsene Männer jeden Alters. Er ist uns sympathisch, mit dem Vorwand der Dankbarkeit lade ich ihn zum Tee ein, aber in Wirklichkeit will ich seine Geschichte hören, sein Lebensalltag in der Community.
Hintergründe zum Thema Aborigines
Zwei Stunden später, dreimal haben wir Wasser aufgesetzt, verlassen wir den Ort. Mein Notizbuch ist voll, irgendwann schreibe ich euch seine Erfahrungen, es ist Wahnsinn. Seitdem ist für uns klar, wenn wir ungeschminkte Informationen zu den Problemen der Aborigines haben wollen, dann sind die Manager in den Communities eine perfekte Quelle. Aber auch dazu irgendwann mehr.
Auf der Weiterfahrt nach Alice entsteht die Idee zu einem eigenen Buch zum Thema Aborigines, ein kleines Buch, kein Erzählbuch, sondern ein gut recherchiertes Buch. Eine neue, eine reizvolle Aufgabe für die Reise.
In Alice beginnt die Recherche in der Bibliothek und endet in der Animalbar. Auf dem weiteren Weg suchen wir Kontakt zu Community-Managern, fast alle aufgeschlossen und informativ.
Zwei Tage sitzen wir auf der Terrasse des kleinen Kiosk in der Stanley Chasm Schlucht, die Schlucht ist auf Gebiet der Traditional Owners und Ray managt die Eintrittsgelder, den Kiosk, das kleine Camp. Ray verschwindet im Haus und kommt kurz darauf mit einem Ordner zurück: „Hier, guckt euch das mal an. Jeder Manager muss vorher zu einem Workshop, in dem die Denkweise, Wertevorstellung, Religion, traditionelle Gesetze etc. der Aborigines näher gebracht werden. Das sind die Schulungsunterlagen.“
Kurzes durchblättern und quer lesen reicht: „Den Ordner will ich haben. Wer macht die Schulung?“ „Bess und Dave Price, Bess ist Aborigine aus dem Stamm der Warlpiri und Mitglied des Parlaments in Darwin. Dave war Lehrer in verschiedenen Aborigine-Communitys. Sie haben eine Beratungsfirma in Alice und führen die Schulungen und Workshops im Auftrag der Regierung durch. Warte mal.“ Ray tippt eine Nummern in sein Handy: „Hey Dave, hier ist Ray, ich habe hier zwei Deutsche sitzen, die interessieren sich für deinen Schulungsordner, sie recherchieren für ein Buch. Ich geb dich mal weiter.“
Schwupps habe ich das Telefon in der Hand. Dave ist nett, erstklassiges, leicht verständliches Englisch. Am Ende des Gesprächs haben wir einen Termin in vier Tagen in Alice.
Vier Tage später schreibe ich wieder einen Kugelschreiber leer und trage mein Notizblock gemeinsam mit einem dicken Ordner zu unserem Auto. Jetzt geht die Arbeit los. Ein Kapitel wird das „Traditional Law“ sein.
Aboriginal Gesetz
Die Aborigines identifizieren sich auch heute noch mit den alten Traditionen, denn dort liegen ihre Wurzeln. Sie respektieren und werten ihre eigenen Gesetze höher, als die einer fremden Kultur, die sie aufgedrängt bekommen haben. Oft werden sie für Vergehen innerhalb ihres Stammes bestraft.
Immer mehr Richter stellen fest, dass sie bei ihren Entscheidungen berücksichtigen müssen, dass Täter und Opfer oft noch nach dem traditionellen Gesetz leben. Daher versuchen sie in den Verhandlungen für das Aboriginal Gesetz Respekt zu zeigen und den schwierigen Weg zu gehen, es an den Stellen anzuerkennen, wo es sich mit dem australischen Gesetz vereinbaren lässt.
Das Thema der Doppelbestrafung wird dabei von den Richtern sehr ernsthaft betrachtet. Es gilt zu vermeiden, dass eine Person zweimal für dasselbe Verbrechen bestraft wird, zum Einen nach dem Aboriginal Gesetz und zum Anderen nach dem Australischen Gesetz.
Schwierig wird die Urteilsfindung, wenn Anwälte das traditionelle Gesetz zur Verteidigung ihrer Klienten nutzen, um eine Strafmilderung zu erreichen: “ Mein Client gibt zu, seine Frau getötet zu haben. Aber er hat in Übereinstimmung mit dem alten Gesetz gehandelt. So war es kein richtiger Mord, die Tat war unter seinem Gesetz gerechtfertigt.“
Ein gravierender Gegensatz:
Aboriginal Gesetz ist nie objektiv/unparteiisch. Es wird niemand in die Entscheidung der Bestrafung für ein begangenes Verbrechen einbezogen, der nicht in irgendeiner (verwandtschaftlichen) Beziehung zum Opfer oder Straftäter steht. Es sind Familienangelegenheiten, wer nicht mit den Betroffenen verwandt ist, hat sich aus der Angelegenheit raus zu halten.
Vor dem australischen Gericht hingegen wird sichergestellt, dass das Urteil absolut unparteiisch ist und aufgrund von Beweisen getroffen wird. Die Geschworenen vor Gericht dürfen in keiner Weise mit dem Opfer oder dem Straftäter in Verbindung stehen oder gar verwandt sein.
Die Anerkennung des Aboriginal Gesetz vor dem australischen Gericht würde in Konflikt mit der Einhaltung der internationalen Menschenrechte stehen, wo laut Artikel 7 alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln sind. Auch im Bezug auf den Rechten der indigenen Völker gibt es Konfliktpotential. Hier ein Auszug von zwei Artikeln der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker:
Artikel 34
Indigene Völker haben das Recht, ihre institutionellen Strukturen und ihre Bräuche, Spiritualität, Traditionen, Verfahren, Praktiken und, wo es sie gibt, Rechtssysteme oder Rechtsgewohnheiten im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsnormen zu fördern, weiterzuentwickeln und zu bewahren.
Artikel 22
2. Die Staaten ergreifen gemeinsam mit den indigenen Völkern Maßnahmen, um dafür zu sorgen, dass indigene Frauen und Kinder vollen Schutz vor allen Formen der Gewalt und der Diskriminierung und uneingeschränkte diesbezügliche Garantien genießen.
Circle sentencing – eine alternative Urteilsfindung
In Kalgoorlie gibt es eine Besonderheit (einzig in Western Australia), ein Circle sentencing. Das Verfahren des „Circle Sentencing“ wurde ursprünglich 1992 in Canada als Teil der Gerichtsverhandlung und Urteilsfindung entwickelt um die Verbrechensrate unter den indigenen Bevölkerung dort zu reduzieren. Es wird ein Kreis aus den Ältesten der Community, Anwälten und Richter gebildet, die über die Straftat diskutieren und gemeinsam zu einer Urteilsfindung kommen. Ein Richter entscheidet, ob ein Fall für eine Verurteilung durch das alternative Strafverfahren zugelassen wird, eine Vorraussetzung dafür ist, dass der Straftäter sich schuldig bekennt. Für Schwerverbrechen wie Vergewaltigung und Mord ist das Circle Sentencing nicht zugelassen.
Seit 2002 wird Circle Sentencing in einigen Communities in New South Wales für indigene Straftäter eingesetzt. Dabei wird in dem Verhandlungsprozess weiterhin die Verurteilung nach Aktenlage verfolgt, aber es beinhaltet die Teilnahme von Mitgliedern der Community (meist die Ältesten) und soll die Barrieren zwischen der Community und dem Gericht reduzieren. Ein Vorteil dabei ist, dass das Verfahren nicht in der für Aborigines komplizierten Gerichtsjargon sondern in einfachem Englisch abgehalten wird, teilweise sogar in der Sprache der Community und damit wesentlich zur Verständigung beiträgt.
Das Gericht in Kalgoorlie tagt alle 14 Tage Mittwochs. Wir haben uns als Gäste für das morgige Verfahren angemeldet und dürfen der Verhandlung folgen.
Ich werde euch in den nächsten Tagen berichten. Ich gehe jetzt mal Schuhe putzen.