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Reparatur der Seitenscheibe
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Litauen – Ein Glas aus Blech

Ein blöder Fahrfehler, auf den ich jetzt nicht näher eingehe und mit einem lauten Krachen zerplatzt die Scheibe in der Beifahrertür. Kleine Scherben des Security Glases liegen im Fahrerhaus und vor allem auf Sabine Schoß verstreut.
Ein armdicker Ast hat die Scheibe, als der Steyr in seine Richtung kippte, eingedrückt, als sei sie aus Papier. Ich bin einigermaßen überrascht, weiß ich doch, dass Autoscheiben so einfach nicht einzuschlagen sind. Aber jetzt ist sie kaputt.

Eine provisorische Lösung ist bestimmt im nächst größeren Ort schnell zu finden. Ich stelle mir eine Scheibe aus Plexiglas oder einfachem Fensterglas vor. Den Begriff Plexiglas verwende ich, weil ich denke, dass man mich nicht versteht, wenn ich den sachlich richtigen Begriff Polymethylmethacrylat verwende und man mich wieder weg schickt mit der Begründung, dass man solch ein Material in Litauen nirgends finden wird.

An der Tankstelle in, ach, den Ort lass ich mal weg, erklärt mir ein vollbärtiger junger Mann, der selbst einen  höhergelegten Hilux fährt, den Weg in das Schrauberviertel am Rande der Stadt.

Im Schrauberviertel

Während sich das Zentrum des Ortes schön rausgeputzt präsentiert, scheint die Zeit im Gewerbegebiet vor 20 Jahren stehen geblieben zu sein. Eine Schlagloch übersäte Straße führt an runtergekommenen, halb verfallenen Lagerhallen vorbei, in denen Handwerker, vor allem Autoschlosser,  kleine Parzellen angemietet haben und ihre Dienstleistung offerieren.

Also halten wir beim erst Besten. Der violette „Paris-Dakar-Truck“ wie sie unser Wohnmobil hier nennen, macht Eindruck. Noch bevor wir ausgestiegen sind, laufen die Mechaniker aus dem umliegenden Buden zusammen und fotografieren unseren Laster mit ihren Smartphones.
Die Scheibe ist ein Problem, Steyr-Scheiben hat hier niemand. Das habe ich auch nicht erwartet. Aber vielleicht normales Fensterglas oder Acrylglas?
Schnell ist man sich einig, Vidal soll sich darum kümmern. Er hat seine kleine Garage zwei Gebäude weiter.

Ich baue eine Scheibe aus Blech

Vidal, geschätzt Ende 40, wirkt mit seinem zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren sofort sympathisch. Seine Werkstatt, formulieren wir es mal wohlwollend, ist etwas unordentlich. Aber wir wollen hier keine Motorinstandsetzung durchführen, sondern nur eine Kunststoffscheibe in die Beifahrertür einsetzen lassen.
Vidal spricht Englisch und während er in allen Ecken nach einer alten Plastikscheibe sucht, erklärt er, dass er eigentlich Autos lackiert.
Irgendwann findet er eine 4mm dicke Scheibe, doch nach einem ersten Ausmessen ist diese etwas zu klein. „Größere Scheiben gibt es hier nicht zu kaufen, die müsste ich in Vilnius bestellen und dass dauert zwei bis drei Tage. Ihr könnt aber auch nach Vilnius fahren und es dort irgendwo reparieren lassen.“ Vilnius liegt nicht direkt auf unserer Strecke und viel Lust, dort wieder einen Bastler zu suchen, haben wir auch nicht. „Was würdest du machen, wenn es dein Auto wäre?“ „Ich baute mir eine Scheibe aus Blech. Hier in Litauen muss man nehmen was man hat und damit bauen was man braucht.“ „Okay, dass passt auch für mich, ich nehme das Glas aus Blech.“

„Hier in Litauen ist nichts einfach“

Während Vidal die Scheibe in der Fahrertür ausbaut, um eine Schnittvorlage für die Beifahrerscheibe zu haben, erzählt er, dass er früher Polizist war und 20 Dienstjahre abgeleistet hat. Daraus erhält er eine Rente von 208 Euro monatlich. Aber das reicht zum Leben nicht aus. 300 Euro bräuchte er schon und so verdient er sich mit seiner Garage sein Überleben.
„So, der obere Teil wird aus Plexiglas und den unteren Teil baue ich aus Reparaturblech, genau nach Form der Fahrerseite. Sieht dann vielleicht etwas verrückt aus, ist ja nur ein Provisorium, damit ihr nach Murmansk kommt.“ „Ja, baue mal. Mir ist wichtig, dass ich in den Seitenspiegel sehen kann und dass Sabine im Regen nicht nass wird.“
Während Vidal die Löcher für die Nieten bohrt erzählt er: „Hier in Litauen ist das alles nicht einfach, wir verdienen zu wenig.

Früher entsprachen 3,75 Litas einem Euro. Als dann die Währung auf Euro umgestellt wurde, blieben die Preise unverändert, nur statt in Litas musste jetzt alles in Euro gezahlt werden. Die Löhne wurden aber durch 3,75 geteilt.

Hier in meiner Garage arbeite ich für mein Überleben, eigentlich müsste ich den Betrieb anmelden, dann kämen Steuern und Abgaben dazu, die müsste ich auch zahlen, wenn ich gar keine Kunden habe. Das funktioniert so nicht.“ Und dann führt er mit einem Lächeln hinzu: „So ist das hier, du arbeitest 20 Jahre als Polizist und kannst nach Dienstende nur auf illegalem Weg überleben.“
Nach dreieinhalb Stunden Arbeit wird als letztes die Türverkleidung befestigt und dann ist es so weit. „So, fertig. Wegen der Nieten kannst du die Scheibe nicht ganz runterkurbeln.“ „Für uns ist das okay.“
Vidal ist stolz auf seine Arbeit, freut sich, dass alles funktioniert und die Scheibe passt und ich bin stolz auf mein litauisches Glas aus Blech. Ein letzter freundschaftlicher Händedruck, dann starte ich den 12m18 und es geht wieder auf die Landstraße gegen den rauen Wind nordwärts.

Burkhard Koch reiste im Alter von 15 Jahren mit dem Fahrrad und Schlafsack frei durch Deutschland. Die Reiseleidenschaft wurde perfektioniert. Heute reist er ständig mit seiner Frau Sabine und einem Allrad-Lkw. Burkhard Koch schreibt für verschiedene Zeitschriften und Magazine.

This article has 4 comments

  1. Hans-Joachim Kamp

    Wie hoch war denn das Honorar für den findigen Autobastler Vidal?

  2. Max

    Scherben sollen ja Glück bringen – in diesem Fall wohl eher den Lesern als euch.
    Das ist wieder mal einer dieser Berichte, die eure Seite so verdammt lesenswert machen…

    Was Vidal bekommen hat bzw. wie hoch im Vergleich der Monatslohn für einen – sagen wir – Lehrer oder Polizisten ist, würde mich auch interessieren.

    Gute Reise weiterhin,
    Max

  3. Burkhard Koch

    Wir haben 60,- Euro gezahlt, incl. Material.
    Material (Plexiglas) kostet in Deutschland etwa 45,-€ pro 1qm.

  4. Berthold

    Klasse! Improvisieren. Einen „genialen Pfusch“ machen. Einen Weg / eine Lösung finden mit dem was man hat / was man kann.

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