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Australien

Traditional Law der Aborigines

Das kleine Büro von Murray Stubbs, dem Pflichtverteidiger der Aborigines, ist nur wenige Schritte vom Gerichtsgebäude entfernt. Zehn Minuten vor dem vereinbarten Termin öffnen wir die unscheinbare Tür und stehen in einem Raum, der als Wartezimmer, Empfang, Schreibbüro und Telefonzentrale dient. Es sieht nicht wirklich aus wie eine Kanzlei. Das Gebäude scheint ein ehemaliges kleines Minenarbeiterhäuschen zu sein, drei Zimmer, Küche, Bad, das jetzt irgendwie als Kanzlei dienen muss.
„Warten Sie bitte noch einen Moment, Herr Stubbs ist noch im Gespräch.“
An der Wand steht eine Sitzreihe mit drei Plätzen, wie man sie aus Wartezimmer in Arztpraxen kennt. Im Prospektständer finden sich Informations-Faltblätter zu Diskriminierung, Rechte und Pflichten gegenüber der Polizei, Gewaltprävention, Alkoholsucht und etwa ein Dutzend anderer Themen.

Aboriginal Legal Service

Es ist eigentlich auch nicht das Büro von Herrn Stubbs, es ist das Büro vom „Aboriginal Legal Service of Western Australia“, eine Art Rechtsbeihilfe-Organisation für Aborigines.
Die Hilfe ist kostenlos, beschränkt sich auf Familien- Zivil- Straf- und Menschenrecht und ist an Einkommensgrenzen gekoppelt. Sie steht Aborigines und Torres Strait Islander offen, für weiße einkommensschwache Australier gibt es vergleichbare Rechtshilfe einer anderen Organisation.
Murray holt uns im Wartezimmer ab: „Dann kommen Sie mal mit in mein Büro. Wir haben etwa eine halbe Stunde Zeit.“ Sein Büro ist klein, geschätzte vier mal vier Meter, er teilt es sich mit einem Kollegen und vielen Akten. Die Möbel alt, der Teppich abgelaufen, es ist nicht wirklich aufgeräumt. Aufgeschlagene Aktenordner auf dem Boden, der Schreibtisch zugepflastert mit Berichten, Klatten, Dossiers, Polizeifotos, Fotokopien, dazwischen eine Kaffeetasse, Telefon, Computertastatur und der Flachbildschirm.

Familie hat eine andere Bedeutung

Während ich noch an der ersten halbwegs intelligenten Frage überlege, öffnet Murray die Schublade und zieht zwei alte Fotos aus einer Klarsichthülle. „Hier, das sind meine Großeltern.“ Die Fotos, leicht gelbstichig, zeigen einen alten Mann mit langen weißen Haaren,  markante Erscheinung, die Frau ebenso. Wenn er gesagt hätte: „Das ist ein Bild eines Indianerhäuptling der Sioux mit seiner Squaw aus dem Jahre 1850“, ich hätte es geglaubt.
„Meine Großmutter sollte eigentlich als Kind umgebracht werden, sie ist ein Mischlingskind, ihr Vater war ein Weißer, der sich aber nicht um sie kümmerte. Ihr Aboriginal-Stiefvater wollte sie töten, als er ihre Mutter zu sich nahm, weil sie Mischling ist. Man hat sie in eine andere Familie gegeben und die Ältesten haben ihren Stiefvater von der Tat abbringen können. Nach zwei Jahren lebte sie dann wieder mit ihrem Stiefvater, Mutter und Halbgeschwistern zusammen.“
„Man gibt einfach Kinder in eine andere Familie? Heute immer noch?“

„Andere Familie bedeutet nicht fremde Familie, bei uns ist der Familienbegriff anders, weit reichender. Die Schwestern meiner Mutter, also meine Tanten, sind auch meine Mütter. Das ist bei uns so, anders wäre ein Überleben draußen im Busch auch gar nicht möglich gewesen. Jede „Mutter“ füttert, erzieht und achtet auf jedes Kind. Das Kinder zu einer Tante engere Gefühle entwickeln als zur leiblichen Mutter, ist nicht ungewöhnlich, in der europäischen Kultur ein Unding. Genauso sind die Brüder meines Vaters auch meine Väter. Ich erzähle Ihnen das, damit Sie verstehen warum Familie für uns eine andere Bedeutung hat. Familie ist Schutz und sichert das Überleben. Familie ist wichtiger als ein Einzelner. Ich erzähle Ihnen das, damit Sie den Fall von heute morgen mal aus einer anderen Sicht sehen. Vor Gericht geht es um die Verletzungen, die er seinem Cousin zugefügt hat, geht es um Schmerzensgeld, es geht um den Einzelnen. Aber er hat die Familie zerstört. Sein Vater ist seitdem mit seinem Bruder im Streit. Die Familie ist verletzt, dafür muss er bestraft werden. Nicht vor Gericht, von der Familie“.

Payback, sie werden ihn halbtot schlagen

„Vor Gericht hörten wir oft den Begriff „Payback. Ist damit die Bestrafung innerhalb der Familie gemeint?“
„Ja, auch, Payback bedeutet Rache, unser traditionelles Recht baut darauf auf. Es hat eine enorm abschreckende Wirkung, Jeder weiß, das was ich tue, bekomme ich in gleicher Weise zurück. Der junge Mann von heute morgen wird sein Payback erhalten, er weiß es und er weiß, es ist nicht mit einer blutigen Lippe getan. Sie werden ihm die Knochen brechen, sie werden ihn prügeln bis er nicht mehr aufstehen kann. Man wird ihn auf der Straße liegen lassen, er weiß es.“ „Und dann?“ „Vielleicht nimmt ihn seine Mutter mit nach Hause und pflegt ihn, vielleicht findet ihn jemand im Straßengraben und ruft die Flying Doctors.“ „Und dann ist die Sache erledigt oder gibt es ein Payback fürs Payback?“ „Die Sache ist erledigt, jeder kennt die Gesetze.“ „Und wenn der Cousin gestorben wäre, würde man ihn umbringen?“ „Vielleicht ja.“ „Und die Polizei weiß es?“ „Es wird keine Anzeige geben, es wird keine Zeugen geben, es wird noch nicht mal einen Toten geben. Es muss auch nicht zeitnah geschehen, es können Jahre dazwischen liegen, aber das Payback kommt.“

„Wer macht das? Wer wird ihn halbtot schlagen?“ „ Es wird die Familie des Geschädigten tun, seine Familie wird zusehen, die Mütter werden weinen, niemand wird ihm helfen. Die Ältesten werden irgendwann sagen, jetzt ist genug und dann wird man aufhören.“
„Das ist immer so?“ „Es gibt mehrere Wege. Dies ist einer. Man kann auch zu einem „Magic men“ gehen, der einen Zauber ausspricht und so die Tat mit Krankheit, Schmerzen oder Tod sühnt. Der Glaube daran ist weit verbreitet und hat einen enormen psychischen Einfluss.“
„Das heißt, der Junge von heute morgen bekommt die Strafe vor Gericht und wird zudem halb totgeschlagen?“ „Ja. Die Strafe die er bekommen hat, regelmäßiger Schulbesuch, kein Alkohol, soziale Arbeit, Vereinsmitgliedschaft im Sportclub, all das wird nicht als Strafe gesehen. Selbst ein Gefängnisaufenthalt ist für Aborigines keine Strafe. Die einzige Strafe ist körperliche Gewalt.“

Alkohol ist ein Flächenbrand

„Die Tat war alkoholbeeinflusst, nimmt das Traditional Law darauf Rücksicht?“ „Alkohol ist das große Problem in den Communities. Das Payback setzt auf Abschreckung, setzt auf Angst vor dem körperlichen Schmerz. Das funktioniert gut. Gewaltverbrechen sind in intakten Communities sehr selten. Sobald Alkohol zur Verfügung steht, wird es katastrophal. Die Hemmschwelle sinkt, die Aggression steigt und der Gedanke ans Payback wird ausgeschaltet. Ohne Alkohol wäre es nie zu dem Fall von heute Morgen gekommen. Und Sie haben es ja selbst gesehen, in allen Fällen die heute früh verhandelt wurden, war Alkohol im Spiel.“ „Ist der Kampf gegen Alkohol in den Communities erfolgreich?“ „Alkohol hat einen Flächenbrand ausgelöst, den wir nicht mehr unter Kontrolle kriegen, wir können nur noch darum kämpfen, dass das Feuer nicht auf die trockenen intakten Communities überspringt. Es klingt hart, aber das Alkoholproblem ist erst beendet, wenn sie sich tot gesoffen haben.“

„Ändert sich die Sichtweise bei Aborigines hin zu unserem Strafverständnis, das auf Einsicht, Reue, Wiedergutmachung und Verhaltensänderung des Täters zielt?“  „In Städten schneller als auf dem Land. Aber hier im Outback ist das „Bush-Law“ sehr stark, wird weitgehend praktiziert und Veränderungen kommen, wenn überhaupt, nur sehr langsam. Leonora und Wiluna, 500 Kilometer im Norden sind Communities mit starkem Traditional Law, da hat es so gut wie keine Veränderung gegeben.“
Murray holt ein weißes Blatt Papier aus dem Kopierer und schreibt zwei Namen auf. „Hier, das sind zwei Älteste in Wiluna, die können Ihnen mehr zur Praxis des Paybacks erzählen, aber haben sie keine zu hohen Erwartungen, vieles ist geheim und man gibt Fremden keinen Einblick. Aber bestellen Sie Grüße von mir, vielleicht haben Sie Glück.“

Burkhard Koch reiste im Alter von 15 Jahren mit dem Fahrrad und Schlafsack frei durch Deutschland. Die Reiseleidenschaft wurde perfektioniert. Heute reist er ständig mit seiner Frau Sabine und einem Allrad-Lkw. Burkhard Koch schreibt für verschiedene Zeitschriften und Magazine.

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