Warenkorb

Knast, Puff und Rebellen

Im Knast

Der Text stammt aus unserem ersten, inzwischen vergriffenem, Buch „Knast, Puff und Rebellen“. Das Abenteuer liegt ein paar Jahre zurück. Wenn man die Story heute liest, kann man sich nur an den Kopf fassen.

Jeder von uns hat zwei frisch gewaschene Wolldecken bekommen, dafür mussten wir Gürtel und Schnürsenkel abgeben. Ein fairer Tausch, denn die Wolldecken nützen uns jetzt mehr.
Klick und noch mal klick. Die Stahltür hinter uns wird vom Gefängniswärter zweimal verschlossen. Wir sind verhaftet.

Wir sitzen im Keller der Polizeistation von Béchar in Arrest. Die Zelle ist geräumig, bestimmt fünf mal fünf Meter. An drei der Wände ist ein bestenfalls 60 cm breiter Sims gemauert. In der vierten Wand ist eine stabile Eisentür mit einer kleinen verschließbaren Öffnung, zu der hoffentlich Nahrungsmittel reingereicht werden. Dahinter befindet sich ein Gang zu weiteren Zellen, die wohl alle so aussehen wie unsere.

In einer Ecke ist ohne jede Abtrennung die Toilette, eine typisch südländische, mit einem Loch im Boden und zwei Fußabdrücken, die Benutzung erklärt sich von selbst. In Kniehöhe befindet sich ein Wasserhahn. Wasser und die linke Hand ersetzten das Klopapier, das es hier natürlich nicht gibt. Sonst ist die Zelle leer. Kein einziges Möbelstück, nicht mal ein Tisch oder ein Hocker. Die Wände sind verputzt und mit blauer Ölfarbe gestrichen, welche an einigen Stellen schon wieder abblättert. Der Boden ist grauer Zement.

An der Wand gegenüber der Zellentür fehlt in der oberen Ziegelsteinreihe jeder zweite Stein, so dringt Sonnenlicht in die Zelle und wir können ein Stück des blauen Himmels sehen. Mehr aber auch nicht. Aber wenigstens wissen wir, ob es Tag oder Nacht und ob der Himmel blau oder grau ist. Wir wollen nicht klagen, immerhin haben wir die Zelle für uns allein, ein Zeichen der bevorzugten Behandlung. Die Nachbarzellen sind mit mehr als einem Duzend Personen, hauptsächlich illegal eingewanderte Afrikaner, belegt.

Ich nehme eine der Decken und lege mich auf den Sims. Frank macht das Gleiche.
„Wir sind ganz schön am Arsch, doof gelaufen!“, denke ich laut, während ich an die Zellendecke starre.
„Jo, wie im schlechten Film.“
„Wie in einem Western, aber da endet es mit Ausbruch oder Strick.“
„Die Filme, die mit Ausbruch enden, mag ich mehr.“
„Gut, da sind wir uns ja einig. Nur, wie brechen wir hier aus? Wie haben die das in den Western immer gemacht?“

Aber warum sind wir im Knast?

Frank lernte ich vor ein paar Jahren in der Stadt kennen, als ich seinen Toyota-Land Cruiser auf einem Supermarktparkplatz unter die Lupe nahm.

Das Fahrzeug war echt Sahara-tauglich. Es entwickelte sich eine Freundschaft und an einem Novemberabend wurde bei Kaminfeuer und Rotwein aus einer Schnapsidee der Plan, mal nachzusehen, ob die Grenze zwischen Marokko und Algerien wirklich geschlossen sei, so wie es in allen Internetforen und Reiseführern behauptet wurde. Tatsache ist, dass die Grenze Anfang der neunziger Jahre geschlossen worden ist.

„Das wäre lustig, die Grenze wäre wieder offen und keiner führe hin, weil jeder liest, die Grenze sei zu!“, belachte sich Frank.
„Ruf doch morgen früh mal bei der Botschaft der Marokkaner an“, scherzte ich.

Am nächsten Morgen gegen elf ging das Telefon.

„Hi Burkhard, hier ist Frank. Ich habe gerade mit der marokkanische Botschaft telefoniert. Die sagen, die Grenze sei offen, wir könnten ausreisen, aber die Algerier hätten ihre Grenze geschlossen, wir könnten dort nicht einreisen.“
„Das werden wir ja sehen.“

Also besorgten wir uns ein algerisches Touristenvisum und nur drei Monate später warfen wir Schlafsäcke, Müsli, Bunsenbrenner und Wasserkanister in den Toyo und fuhren los. Vier Wochen Zeit hatten uns unsere Ehefrauen gegeben.

Unser Ziel lautete: „Eine Nacht auf dem Assekrem im Hoggar-Massiv bei Tamanrasset!“

Jetzt liegen knapp 3.000 km Asphaltstraße durch Europa hinter uns. Darunter waren verstopfte deutsche Auto-bahnen, überflutete Straßen in Frankreich und Schneegestöber in den Pyrenäen. Erst in Spanien konnten wir die Heizung abstellen.
Mit der Fähre setzten wir von Spanien auf den afrikanischen Kontinent über. Noch einmal Volltanken in Ceuta und dann zur spanisch-marokkanischen Grenze. War das ein Chaos, Menschenmassen bepackt mit Tüten, Säcken, Kisten und lebenden Hühnern, dazwischen Bettler, Schlepper, Polizisten, Grenzbeamte – und wir mitten drin!
Nach vier Reisetagen war es soweit, wir standen morgens früh um zehn an der Grenzstation zu Algerien in der kleinen Oasenstadt Figuig. Das Zollgebäude kannte ich noch von meiner ersten Algerienreise vor vier Jahren, nichts hatte sich verändert. Der uniformierte Zöllner war nett und freundlich. Frank spricht besser französisch und so übernahm er die Konversation.

„Wir möchten nach Algerien reisen und hier die Ausreise aus Marokko erledigen.“
„Die Ausreise ist kein Problem, ich kann euch gerne die Pässe abstempeln, aber die Algerier werden euch nicht einreisen lassen.“
„Wir können es ja mal probieren“, entgegnete Frank.
„Die Grenze ist zu. Die Algerier sind alle weg gelaufen, da ist gar keiner mehr und die Straße ist unpassierbar.“ „Wir wollen es uns aber mal ansehen.“ Wir blieben hartnäckig.
„Ihr kommt sowieso zurück und dann müssten wir die ganze Einreiseprozedur noch mal machen. Ich lasse euch ausnahmsweise einfach mal so zur Grenze fahren und ihr könnt es euch selbst ansehen. Spätestens dann kommt ihr eh zurück.“
„Okay, einverstanden. Bis gleich“, freuten wir uns und verließen den Grenzposten.

Wir fuhren durch einen schönen Palmenhain. Nach ca. drei Kilometern passierten wir den offenen marokkanischen Schlagbaum. Das Zelt, im Schatten einer Palme, in dem vor vier Jahren noch ein dicker korrupter Zöllner auf seinem Feldbett gelegen hatte, war verwaist.

Im Schritttempo fuhren wir weiter.

Die algerische Flagge kam in Sicht. Die alten Bürocontainer und Blechbaracken sind durch neue Steingebäude ersetzt worden, aber wir gelangten nicht dorthin. Ein tiefer, mit einem Bulldozer gezogener Graben versperrte sogar unserem Geländewagen den Weg.

Keine Chance!

Ein Blick durchs Fernglas zeigte, dass die Gebäude menschenleer waren, noch nicht mal ein einzelner, zurück-gelassener Wachmann war zu sehen. Wir wendeten und enttäuscht fuhren wir zurück zum Zoll in Figuig.

„Na, habe ich euch doch gesagt“, empfing uns der Zöllner.
„Ja, Sie hatten recht. Schade. Aber jetzt machen wir uns noch ein paar schöne Wochen in Marokko, tschüss“, stimmten wir ihm, etwas kleinlauter als eben, zu.
„Willkommen in Marokko, tschüss“, lachte er fröhlich.

Wir fuhren über die einspurige Teerstraße zurück in Richtung Westen. „Da hat sich unsere Mission ja schnell erledigt, was machen wir jetzt?“, fragte ich Frank.

„Wie spät ist es?“
„12 Uhr.“
„Wir könnten zum Erg Chebbi fahren und da irgendwo in den Sanddünen übernachten und neu planen.“
„Wir könnten auch zu meinem Freund Hassan in Merzouga fahren und dort auf dem Dach schlafen, der freut sich bestimmt, uns zu sehen.“
„Tee trinken können wir ja auf jeden Fall bei deinem Freund und ob wir auf dem Dach oder im Sand schlafen, entscheiden wir später.“
„Zeig mal die Karte.“
„Hier! Was denkst du? Hast du schon eine neue Idee?“ „Die Straße führt gleich 50 km Richtung Nordwest in die Oase Bouarfa und dann 50 km Südwest. Hier auf der Karte gibt’s eine Piste, 50 km strack nach West, sie ist zwar als verbotene Militärpiste auf der Karte eingezeichnet, aber wir würden 50 km abkürzen, was meinst du?“
„Piste ist Piste, wahrscheinlich weiß hier kein Mensch, dass die verboten ist. Wen interessieren hier schon französische Landkarten? Von mir aus fahren wir strack West.“
„Mist, unser Sprit reicht nicht aus, wir müssen doch hoch nach Bouarfa um zu tanken.“

Kurze Zeit später erreichten wir die Stelle, wo die „verbotene“ Piste von der Teerstraße abzweigt.

„Guck dir das an, die haben da wirklich einen Militärposten und eine Wache stehen“, bemerkte Frank erstaunt.
„Halt doch mal an und frag nach seiner Nationalität, den haben die Franzosen hier bestimmt vor 50 Jahren vergessen“, witzelte ich.
Frank lachte und stoppte den Wagen. „Ich frage mal, ob wir die Piste fahren dürften, wenn wir Sprit hätten. Nur mal so aus Interesse.“

Es dauert noch keine Minute und Frank war zurück.
„Und? Was hat er gesagt?“
„Ihm sei das egal, hier führe sowieso jeder wie er wolle.“
40 Minuten später waren wir in Bouarfa. Der Land Cruiser wurde randvoll getankt und anschließend kauften wir ein paar Lebensmittel auf dem Markt. Wir gingen zum Barbier. Ich ließ mich rasieren und stank anschließend fürchterlich nach Rasierwasser. Frank ließ sich die Haare schneiden und kam mit dem marokkanischen Einheitsschnitt aus dem Laden.

Im gegenüberliegenden Straßencafé bestellten wir zwei Milchkaffee. „Ich hol mal die Karte aus dem Auto“, sagte Frank, „kannst für mich noch einen frisch gepressten Orangensaft bestellen.“ „Okay.“
Frank kam mit der Karte zurück und faltete sie auf dem Tisch auseinander.
„Die algerische Grenze ist gar nicht weit weg“, begann er.
„Wir könnten einfach genau nach Süden fahren und uns die Grenze mal ansehen, mal gucken, ob die wirklich so bewacht ist, wie der Friseur erzählt hat.“
Ich war neugierig: „Was hat der Friseur denn gesagt?“ „Er sagte, die Grenze sei gefährlich und stark bewacht von beiden Seiten. Selbst Nomaden und Hirten trauten sich nicht in ihre Nähe.“
„Zeig mal die Karte – was soll da gefährlich sein? Wir können doch mit dem Fernglas voraus gucken und jederzeit umdrehen.“
„Wir fahren einfach nach Süden, querfeldein, und müssten dann eigentlich auf die verbotene Militärpiste stoßen.“
„Ja, aber für die hat der Soldat uns ja das Okay gegeben. Solang wir nördlich dieser Piste sind, wird uns nicht viel passieren. Wenn wir merken, dass uns ein Militärjeep verfolgt, machen wir auf ‚doof’ und sagen, wir hätten uns verirrt“, schlug ich vor.
„Oder wir spielen die naiven Touristen, steigen aus und fotografieren jeden Stein“, schmunzelte Frank.
„Ja, nördlich der Piste kriegen wir das geregelt, falls sie uns aufgreifen sollten. Wenn wir die Piste gekreuzt haben, sind es vielleicht noch zwei, drei Kilometer bis zur Grenze, dann ein Blick, ein Foto und zurück.“
„Oder durch nach Algerien, vielleicht ist da ja niemand und wir stoßen auf die Teerstraße, die von Tindouf nach Béchar führt. In Béchar können wir zum Flughafen gehen, da ist auf jeden Fall der Zoll und wir regeln die offizielle Einreise, die Devisendeklaration und den ganzen Scheiß, Visum haben wir ja.“
„Sind halt mit dem Toyo geflogen! Hört sich gut an, komm, lass uns den Kaffee zahlen und fahren.“
„Okay, das probieren wir aus.“

Der Grenzübertritt

Zehn Minuten später bogen wir links von der Teerstraße ab und die Kompassnadel zeigte konstant auf das große S. Ich beobachtete konzentriert den Horizont ringsum uns herum. Kein Militärfahrzeug in Sicht. Frank konzentrierte sich aufs Fahren. Das Gelände war nicht sonderlich schwierig, nur ab und an erforderten tiefe Gräben etwas Geschick beim Herein- und noch mehr beim Hinaus-fahren.

Wir passierten ein Spurenbündel. „Das muss die Militärpiste sein“, stellte Frank fest.

Kurz darauf stieg das Gelände flach an. Die dunkle Kiesebene ließen wir zurück, es wurde sandiger. Wie aus dem nichts stießen wir auf Fahrspuren, die fast genau in unsere Richtung führten. Wir folgten ihnen eine kleine Anhöhe hinauf und standen plötzlich ungefähr 300 m vor einem massiven Stacheldrahtzaun.

„Keine Chance, da gibt’s kein Durchkommen“, stellte Frank fest.
„Wo führen denn die Spuren hin? Lass uns mal noch ein paar Meter in den Spuren weiter fahren.“ Ich wollte jetzt nicht voreilig aufgeben.
„Das gibt’s doch nicht, guck mal, da vorne, da ist ein Loch im Zaun.“
„Wo?“ Ich war ungeduldig.
Meine Frage blieb unbeantwortet. Frank gab Gas und der Toyota spurtete zu dem Loch, das er entdeckt hatte.
„Guck dir das an, hier enden auch die Fahrspuren, der Wagen muss hier gedreht haben.“ Gespannt sahen wir uns um.
„Ja, und auf der anderen Seite hat auch ein Fahrzeug gedreht, zwischen den beiden Seiten des Zauns verlaufen Fußspuren.“
„Wahrscheinlich wird hier geschmuggelt und die Ware wird hier umgeladen.“
„Oder es sind illegale Flüchtlinge, Marokko ist Transitland von Schwarzafrika nach Europa“, mutmaßten wir. „Das Loch ist zu klein um durchzufahren, vielleicht 1,5 Meter.“
„Meinst du der Draht steht unter Strom?“
„Kann er ja nicht, der liegt ja auf dem Boden.“
„Den kriegen wir doch mit dem Bergegurt aufgezogen, sodass unser Toyo durchpasst.“
„Probieren könnten wir’s. Aber wenn jetzt von irgend-einer Seite Militärs kommen, wird es schwer, das zu erklären.“
„Ich hole mal den Gurt aus der Dachbox.“ In meinen Fingerspitzen kribbelte es.

Während ich über die Motorhaube auf das Dach stieg, holte Frank aus der Werkzeugkiste zwei Schäkel. Zwei Minuten später war der Bergegurt mit den Schäkel am Stacheldrahtzaun und an den Abschlepphaken des Toyo befestigt. Frank fuhr langsam zurück, zog den Gurt stramm und gab mehr Gas.

„Es funktioniert, er bewegt sich!“, jubelte ich.
„Ja, ging total einfach – und schon wieder eine gute Tat, jetzt brauchen die Schmuggler nicht mehr zu Fuß gehen, die können jetzt direkt durchfahren.“
„Wir sind einfach gute Menschen“, grinste ich.
„Speicher die Koordinaten im GPS ab, vielleicht brauchen wir die noch mal.“
„Zack, schon passiert.“

Ich rollte den Bergegurt zusammen und verstaute ihn wieder in der Alukiste auf dem Dach. Von dort oben konnte ich ein wenig weiter in die freigekämpfte Richtung blicken.

„Schnell, gib’ mir mal das Fernglas, dahinten kommt was auf uns zu!“ Das Kribbeln kam plötzlich zurück, diesmal nicht nur in die Finger.
„Was siehst du da oben?“ Frank stürzte zum Handschuhfach und mit zwei Sprüngen stand er neben mir auf dem Dachgepäckträger.
„Dahinten, siehst du die Staubwolke?“ Ich zeigte mit der Hand in nordwestliche Richtung.

Frank guckte durch das Fernglas in die angegebene Richtung. „Nee, da ist nichts. Das war bestimmt nur eine Windhose.“
Erleichtert kletterten wir vom Dach.

„So, die letzte Möglichkeit umzudrehen, was meinst du?“ „Nee, wir machen weiter, bis jetzt ist doch alles gut gegangen.“
„Das Argument überzeugt.“ Frank brauchte ich nicht überreden.

Wir fuhren auf die andere Seite des Zauns, folgten den dortigen Fahrzeugspuren durch eine kleine Senke und nach ca. 500 m ging es leicht bergauf. Wir fuhren nur Schritttempo, obwohl schnelleres Fahren möglich gewesen wäre. Plötzlich machte Frank eine Vollbremsung. Der Landcruiser stand sofort.

„Was ist das?“, fragte Frank leise, obwohl niemand in der Nähe war, der uns hätte hören können. Mein Herz raste. „Sieht aus wie der Turm und das Kanonenrohr von ein Panzer, fahr mal vorsichtig ein paar Meter zurück.“

Frank legte den Rückwärtsgang ein und ließ den Toyo im Standgas ein paar Meter zurück rollen.

„Was sollen wir machen?“, fragte Frank.
„Drehen und zurück hinter den Zaun, aber langsam, keinen Staub aufwirbeln, vielleicht haben die uns noch gar nicht bemerkt.“
„Okay.“ Wir stoppten hinter dem Zaun, also auf marokkanischem Gebiet.
„Und jetzt?“
„Abwarten, wenn sie uns bemerkt haben, wird gleich ein Militärjeep kommen und dann wird es hier nicht mehr so ruhig und einsam sein wie jetzt. In dem Fall haben wir 500 m Vorsprung und fahren Vollgas Richtung Nord.“
„Ich fahre da drüben in den Graben, da sehen sie uns erst mal nicht. Außerdem verläuft der Graben in Nord-Süd-Richtung, da können wir Richtung Nord flüchten und man kann nicht auf uns schießen.“
„Gute Idee, langsam da rüber, aber wenn die mit dem Panzer ballern, nützt uns der Graben wenig.“
„Quatsch, die würden doch nicht auf marokkanisches Gebiet schießen, das gäbe doch massiven Ärger“, machte Frank sich und mir Mut.
„Ärger haben die sowieso schon miteinander, da kommt es darauf auch nicht mehr an.“

Wir standen bewegungslos in dem Graben, waren beide hellwach und starrten angespannt nach hinten. Wann würde der Jeep am Horizont auftauchen?
„Wir lange warten wir schon?“, begann Frank.
„Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, bestimmt 10 Minuten.“
„Da kommt keiner, die haben uns nicht gesehen.“
„Vielleicht hast du recht, aber vielleicht haben wir auch in der angespannten Situation kein Zeitgefühl und wir warten doch noch keine zehn Minuten. Vielleicht warten wir erst eine Minute und es kommt uns wie zehn Minuten vor“, spekulierte ich.
„Kann sein, wir sehen auf die Uhr und warten ab jetzt noch mal genau zehn Minuten.“
„Und dann?“
„Entweder schleichen wir uns zu Fuß an und gucken mal, was da los ist, oder wir beenden das Ganze und ziehen uns, möglichst ohne Staub aufzuwirbeln, zurück.“ Algerien reizte mich, ich wollte mich nicht zurückziehen. Nicht so knapp vorm Ziel.
„Zurück können wir immer noch. Erst gucken wir uns das ein zweites Mal an, aber wir fahren besser mit dem Toyo noch mal hin, da wären wir schneller weg, falls wir weg wollten.“
„Okay, aber wir warten erst mal die zehn Minuten ab.“ Unsere Blicke wechselten zwischen Horizont und Uhr hin und her. Ich konnte kaum glauben, wie unerträglich lang zehn Minuten sein können. Dann war es soweit.
„So, zehn Minuten sind um, los.“

Frank lenkte uns aus dem Graben, wieder langsam durch das Loch im Zaun und mit ganz geringer Geschwindigkeit die kleine Anhöhe hoch.

„Warte, da vorne ist die Stelle, wo wir vorhin die Vollbremsung gemacht haben, von da kann man den Panzer sehen. Ich klettere mal aufs Dach, vielleicht kann ich schon was erkennen. Wenn ich klopfe, fährst du langsam zurück.“ „Okay.“

Ich kletterte über die Motorhaube auf den Dachgepäckträger und richtete mich langsam ein Stückchen auf. Zu sehen war tatsächlich ein Panzerturm mit Kanone, aber keine Besatzung. Ich richtete mich weiter auf und sah den ganzen Panzer.

„Hey Frank, das ist echt ein Panzer, aber der ist kaputt, total verrostet, ausgebrannt und eine Kette ist auch ab. Ein Stück weiter steht ein zerstörter Land Rover und links dahinter eine kaputte Feldhaubitze. Sehen kann ich niemanden. Die Spuren führen genau zwischen Panzer und Feldhaubitze durch. Fahr mal langsam weiter vor“, rief ich erregt.

Frank stoppte in der Nähe des Panzerwracks.
„Warum sind die kaputt? Warum stehen die hier rum?“, fragte ich mich selbst.
„Meinst du, hier liegen Minen?“, überlegte Frank leise. „Keine Ahnung, aber wir tun besser so, als würden hier Minen liegen.“

„Okay, ich fahr genau in den Spuren der Schmuggler.“ „Die Schmuggler, oder wer auch immer die Spur in den Sand gelegt hat, muss auch einen Land Cruiser gefahren haben, denn die Spurbreite passt genau.“

Ein paar hundert Meter weiter standen wir am Rand eines Plateaus. Das Panzerphantom hinter uns war schon nicht mehr zu sehen. Vor uns tat sich der Blick auf in eine weite Ebene. Wir sahen Wachtürme im Abstand von einigen Kilometern. Wir konnten die gute Teerstraße von Béchar nach Tindouf sehen und erkannten, dass Autos darauf fuhren. Und zudem sahen wir einen Checkpoint auf der Straße. Alle Autos wurden dort angehalten und vom Militär kontrolliert.

„Wie jetzt weiter?“, fragte ich Frank.
„Das Plateau runter fahren ist keine Kunst, aber unten in die Straßensperre will ich nicht unbedingt rein kommen.“ „Ich auch nicht. Wir müssten schon bis nach Béchar kommen und uns hier nicht von Militärs aufgreifen lassen.“
„Das sehe ich genau so. Nur wie?“
„Wo führen denn die Spuren von den Schmugglern hin?“, wollte ich von Frank wissen, der mit dem Fernglas die Gegend genau beobachtete.
„Die verlieren sich etwas weiter, da wo der Untergrund felsiger wird. Dahinten sehe ich Palmen, eine kleine Oase.“
„Und, bringt uns das was?“
„Ich glaub schon, von dort geht zumindest ein Abwasserkanal ab, der bestimmt drei Meter tief ist und parallel zur Teerstraße verläuft, von der, lass mich schätzen, viel-leicht in einem Abstand von 300 m. Genau an dem Checkpoint vorbei.“
„Und wie kommen wir zu den Palmen?“
„Wir fahren hier oben auf dem Plateau in ihre Richtung und dann die Sanddüne dahinten runter, direkt zu der Palmengruppe.“
„Zeig mal her, lass mich mal durchs Fernglas gucken.“ Frank reichte mir das Fernglas und alles sah einfach und machbar aus.
„Das müsste klappen“, stellte ich erleichtert fest.
„Sag ich doch.“
„Und wenn nicht?“
„Dann haben wir ein etwas größeres Problem und kommen nicht pünktlich nach Hause.“
„Ich sage Barbara, du hättest mich überredet.“
„Okay, und ich sage Sabine, dass du mich überredet hättest, aber dann war das die letzte Tour, die wir zusammen machen durften“, lachte ich.
„Das ist schon klar, aber das klappt.“
„Denk ich auch, ist doch idiotensicher.“
„Also, fahr ich?“ „Ja, gib Gas.“
„Halt! Warte“, schrie ich.
„Was ist?“
„Ich wickele die Alukiste auf dem Dach in eine alte Decke ein, damit die nicht so in der Sonne glänzt.“
„Klasse, hinten drin liegt eine alte Reparaturdecke mit Ölflecken, die kannst du nehmen.“

Alles lief nach Plan, ein paar Minuten später befanden wir uns im Schatten der Palmen. Unter den Palmen waren kleine Felder und Gärten angelegt, die bewässert wurden. Aber keine Menschenseele war zu sehen. Am Ende der Palmengruppe sammelte sich ein kleines Rinnsal und floss in den Abwasserkanal, den wir von oben schon ge-sehen hatten.

„So, jetzt wird’s aber unangenehm, dass die Scheiße stinkt, konnten wir von oben leider nicht riechen.“
„Da müssen wir jetzt wohl durch.“ Wir verzogen das Gesicht.
„Nach zwei Kilometern biegen wir ab auf die Teerstraße, dann können uns die Aufpasser vom Checkpoint nicht mehr sehen.“

Wir fuhren ganz langsam im Standgas durch das Abwasser, um möglichst wenig Krach zu verursachen. Die Gülle in dem Kanal hatte den großen Vorteil, dass es nicht staubte.
„Wir sind lange genug im Gestank gekrochen, die zwei Kilometer sind auch um, komm raus hier“, sagte ich zu Frank.
„Warte, ich schraube vorne noch die Nummernschilder ab, dann sieht man nicht gleich, dass wir Touristen sind.“ „Gute Idee, riechen tun wir ja auch nicht wie Touristen. Und schmiere das hintere Kennzeichen mit Schlamm zu, das D-Schild auch.“

So getarnt rollten wir auf die Hauptstraße, doch die Tarnung nutzte gar nichts. Als wir in die Stadt Béchar rein fuhren, winkten uns die ersten Soldaten und Polizisten freundlich zu. Kinder bettelten nach Bonbons und Geschenken.

„Sag mal, wir haben doch alles dafür getan, um nicht wie Touris auszusehen, was unterscheidet uns noch von den Einheimischen? Woran erkennen die Kinder uns?“, konnte Frank sich nicht erklären.
„Die riechen das.“
Wir brachen in Lachen aus und bekamen uns nicht mehr ein. Wir waren froh, dass die Anspannung der letzten Stunden vorbei war. Es dunkelte früh. Die Straßenlampen tauchten die Stadt in ein gelbliches Licht. Wir hielten an einem kleinen Grillstand und aßen mit großem Appetit Hammelspieße mit kalten Pommes. Dafür war die Cola warm. Egal, es schmeckte so gut wie noch nie.
„Jetzt noch schnell zur Polizei, den Einreisestempel abholen und dann raus in die Wüste“, freute ich mich.
„Bei Taghit können wir gut in die Dünen fahren und übernachten, da kenn ich mich aus“, antwortete Frank.
„Los, auf zur Polizei. Ich habe das Polizeirevier vorhin schon gesehen.“

In Algerien

Und tatsächlich, wir fanden die Hauptpolizei in wenigen Minuten, aber es waren nur noch ein paar Wachleute und Verkehrspolizisten anwesend.

Die Verkehrspolizisten waren hilfsbereit, telefonierten sofort mit ihrem Vorgesetzten und nach ein paar Minuten kam ein Auto auf den Polizeihof gefahren. Ein älterer, sehr gepflegter Herr stieg aus. Sein Fahrer wartete im Wagen. Nach der förmlichen aber wie immer sehr freundlichen Begrüßung legten wir ihm unser Problem dar.

„Wir sind gerade angekommen und möchten den polizeilichen Meldestempel in unseren Pass haben.“

Der nette Herr blätterte unsere Pässe durch.

„Sie kommen aus Marokko“, stellte er interessiert fest. „Leider hat die Polizei geschlossen, wir schließen um 17 Uhr. Aber morgen früh um 8 Uhr wird sich alles regeln. Kein Problem. Fahren Sie hinter mir her, ich zeige Ihnen ein preiswertes, aber gutes Hotel ganz in der Nähe.“
„Gut, wir fahren hinterher.“

Das Hotel machte von außen einen guten Eindruck. Der Parkplatz war sauber und die Gartenanlage gepflegt. Wir parkten den Toyota und gingen mit dem netten Polizisten ins Foyer.

Der Polizist sprach in schnellem Arabisch mit dem Hotelmanager, wir verstanden kein einziges Wort. Dann wandte er sich zu uns:

„Leider habe ich jetzt keine Zeit, aber der Ober wird Ihnen gleich einen Tee und etwas Gebäck bringen, willkommen in Béchar. Kommen Sie morgen um acht in mein Büro. So, ich muss los.“ Daraufhin war er auch sogleich verschwunden.

Wir tranken den Tee und ließen uns unser Zimmer zeigen. Ein Doppelbett, ein Tisch mit zwei Stühlen und eine Glühlampe, die mit ihrer Fassung direkt an zwei, aus der Decke kommenden, Kabeln befestigt war. Die Toilette war auf dem Gang.

„Das läuft ja super, wahrscheinlich sind wir morgen Mittag schon im großen Sandmeer“, Franks Augen leuchteten
„Was machen wir jetzt? Noch mal raus in die Stadt?“ „Wir gehen in irgendein Café noch ne Cola trinken, oder wir suchen den Grillstand mit den leckeren Fleischspießchen für ein zweites Abendessen.“
„Dann mal los.“

Wir fanden den Stand ziemlich direkt und hauten uns noch mal den Bauch voll.

„Da drüben, siehst du die Moschee?“, Frank deutete mit dem Arm auf die andere Straßenseite. „Das war mal eine Kirche, habe ich im Reiseführer gelesen.“
„Komm, wir gucken uns die Bude mal an.“

Von einer Kirche war nichts mehr zu sehen, wenn man es nicht wüsste, käme man nicht drauf. Zurück im Hotel gaben wir dem Portier zu verstehen, dass wir um 6 Uhr geweckt werden wollten.
Es hatte tatsächlich geklappt. Morgens um sechs klopfte es an der Tür. Schnell duschen, rasieren, frisches T-Shirt an, dick Parfüm auftragen und los. Wir ließen den Wagen beim Hotel und gingen die wenigen Meter zu Fuß.

Die Inhaftierung

„Auf die Minute pünktlich“, stellte Frank bei einem kurzen Blick auf die Uhr fest, während wir die Stufen der Außentreppe des Polizeigebäudes doppelt nahmen. Eine Wache öffnete uns die große gläserne Eingangstür, bat uns herein und stellte sich dann demonstrativ vor die Tür. Uns war der Rückweg versperrt.

„Hey, was geht denn hier ab?“ Seltsam.
Aber ich kam nicht dazu, Frank zu antworten, denn ein Polizist in tadelloser blauer Uniform war schneller: „Sie werden erwartet, kommen Sie mit.“
Wir folgten ihm durchs Treppenhaus in den zweiten Stock. Der Polizist klopfte an einer Tür und öffnete sie. Wir waren überrascht, eine Polizistin und dazu noch Schwarzafrikanerin, hatten wir nicht erwartet und ein so großes und gut eingerichtetes Büro auch nicht.

„Das wird bestimmt lustig mit der, die Schwarzen sind immer locker drauf“, flüsterte mir Frank zu und wendete sich mit einem Lächeln an die vielleicht dreißigjährige Dame.
„Wir möchten gerne die Einreiseformalitäten erledigen.“ „Was möchten Sie? Die Einreiseformalitäten erledigen?“ Oha, ihre Stimme war laut und ernst, sogar etwas aggressiv, das wird bestimmt nicht lustig mit der, dachte ich. Auch Frank war das Lächeln vergangen.

„Sie missachten unsere Gesetze! Sie reisen illegal ein! Das ist eine schwere Straftat, ist Ihnen das überhaupt klar? Wir werden Ihr Auto beschlagnahmen und Sie mit der nächsten Maschine nach Algier bringen, von dort aus werden Sie nach Deutschland abgeschoben, die Flugkosten wird man Ihnen in Rechnung stellen. Bis zur Abschiebung werden Sie inhaftiert.“

Wir waren sprachlos. Das hatte gesessen. Mit Inhaftierung hatten wir im schlimmsten Fall gerechnet, auch das man uns den Toyota weg nehmen würde, aber als es dann offen auf dem Tisch lag, traf es uns doch härter, als in der Theorie angenommen.

„Setzen Sie sich, ich muss ein Protokoll schreiben.“ Ihr Ton und ihr Blick duldete keine Widerworte. Sie holte eine neue Mappe aus einem Schrank und beschriftete sie. Ein Blatt Papier wurde in die Schreibmaschine gespannt und so unsere Personalien erfasst.

„Was ich Ihnen gesagt habe, ist der normale Weg. Entscheiden wird das mein Chef, der Wachmann bringt Sie jetzt zu ihm.“
„Booh, das ist aber ein Biest, von wegen das wird lustig“, murmelte ich Frank zu, während wir in den dritten Stock gingen.
„Wo ist eigentlich der nette Mann mit den weißen Haaren von gestern Abend?“
„Keine Ahnung, das sieht alles nach einem üblen Trick aus.“

Der Wachmann klopfte an einer Tür und übergab das Protokoll an einen Polizisten. Wir sollten auf der Bank im Flur warten.

„Auf keinen Fall geben wir die Koordinaten vom Loch im Zaun bekannt, das Loch muss offen bleiben“, flüsterte Frank obwohl wir alleine auf dem Flur waren.
„Ist doch klar, wir sagen, wir wären zwischen Erg Chebbi und Zagora nach Süden gefahren und dann auf die Teerstraße nach Béchar gekommen, damit sie nicht in die Nähe des Lochs geführt werden.“
„Okay, wir sagen, wir hätten uns verfahren.“
„Nein, das ist keine gute Idee, wie erklären wir dann unser algerisches Visum im Pass?“
„Hast recht, wir machen einen auf doof und naiv.“
„Das fällt uns ja nicht schwer.“

Plötzlich ging die Tür auf und wir wurden ins Zimmer gebeten. Es war nur ein Vorzimmer, der Chef saß in einem großen Büro, mit riesigem Mahagonischreibtisch, dickem Ledersessel und davor eine kleine Sitzgruppe mit ovalem Mahagonitisch und 12 Stühlen. Der Chef war groß und schlank, hatte dunkle Haare und Schnurrbart und trug einen dunklen Nadelstreifenanzug.

Wir saßen an seinem Schreibtisch und warteten, aber nichts passierte. Er stellte keine Fragen, sondern starrte uns nur an. Dann griff er zum Telefon und sprach mit seiner Sekretärin im Vorzimmer: „Verbinden sie mich mit Algier.“ Er legte den Hörer auf die Gabel.

„Algier soll entscheiden, was mit Ihnen geschieht. Wir müssen einen Moment warten.“ Er drehte sich um und sah aus dem Fenster. Das Telefon klingelte und er führte ein Gespräch in sehr gutem Arabisch. Ein paar Wörter konnten wir verstehen, er schien den Sachverhalt zu erklären, doch dann hörten wir Folgendes: „Wir haben zwei deutsche Spione verhaftet.“

Frank wollte sofort widersprechen, aber er hielt uns die flache Hand entgegen als Zeichen, dass wir ruhig sein sollten. Danach nickte er ein paar mal und antwortete regelmäßig „Oui“. Scheinbar hatte er seine Anweisungen erhalten.

Sobald er aufgelegt hatte, protestierten wir energisch. Wir wollten, dass ein Protokollzusatz geschrieben würde, auf dem festgehalten werden würde, dass man uns nicht verhaftet hatte, sondern dass wir freiwillig die Polizei aufgesucht hatten, um die Einreise zu legalisieren. Er erwiderte nicht viel, gab uns keine weiteren Informationen darüber, was Algier gesagt hatte, aber er diktierte seiner Sekretärin eine Notiz, in der genau das stand, was wir gefordert hatten und fügte sie der Akte bei.

Inzwischen war es Mittag, der Wachmann wurde gerufen und er führte uns in den Keller der Polizeistation. In einem Raum wurden Fingerabdrücke von uns genommen. Jeder einzelne Finger auf zwölf verschiedene Kartei-karten, also insgesamt 120 Abdrücke pro Person. An-schließend auf die Personenwaage. Ich wog 74 Kilo und die darauf folgende Messung ergab eine Größe von 184 cm. In einer Ecke stand ein hölzerner Stuhl, ähnlich wie ihn meine Großmutter früher in der Küche hatte. Der Stuhl war auf einer hölzernen Drehscheibe mit ca. einem Meter Durchmesser montiert.
Ich hatte mich gerade hingesetzt und schnitt eine Grimasse zu Frank, schon blitzte es und das erste Foto war im Kasten. Weitere Aufnahmen folgten, von vorn, von rechts und von links, wobei ich von einem Polizisten samt Stuhl jeweils um 90° gedreht wurde. Ich musste meine Brille ablegen. Jetzt die ganzen Fotos noch mal ohne Brille. Frank lachte in die Kamera, als ginge es um Bewerbungsfotos.

„Glaubst du, du kriegst Bewährung wenn du in die Kamera strahlst?“
„Das nicht, aber ich habe noch nie einen Verbrecher auf den Steckbriefen lachen sehen, da bin ich dann der Erste. Du guckst wie jeder andere Verbrecher auch.“ Immerhin war uns der Humor noch nicht abhanden gekommen.

Nach den Fotos folgten wir dem Wachmann durch einen langen Gang zu einem weiteren, mit flackernden Neon-röhren beleuchtetem Zimmer. Ein Polizist stellte jedem von uns eine Holzkiste in der Größe eines Schuhkartons vor die Füße. „Alles was ihr in den Taschen habt, sowie Gürtel und Schnürsenkel hier rein!“, lautete der Befehl. Die Kisten verschwanden im Regal, wir bekamen jeder zwei frische gewaschene Wolldecken und ab ging’s in die Zelle.

„Tja, wie war das in den Western?“
„Entweder Tunnel graben oder Wachmann überfallen und den Schlüssel abnehmen.“
„Oder eine hübsche Lady bringt Kuchen mit einer eingebackenen Eisensäge.“
„Dann warten wir heute mal auf die Lady.“

Wir beginnen zu Grübeln.

„Sag mal Frank, was meinst du zu dem weißhaarigen Polizisten von gestern Abend?“
„Keine Ahnung, ich denke, der hat uns richtig verarscht. Der wusste was heute hier abgeht und hat uns im Glauben gelassen, alles würde sich einfach regeln. Und heute ist er nicht da. Aber was meinst du zu dem im Nadelstreifenanzug?“
„Der war seltsam, hat keine einzige Frage gestellt und uns keine einzige Information gegeben. Und dann die Aktion mit den deutschen Spionen, was sollte das?“
„Der hat wahrscheinlich nur an seine weitere Karriere gedacht und wie wir ihm dabei nützlich sein können. Und dann hat er nach Algier gemeldet, er habe einen dicken Fisch gefangen. Karrieregeil ist der, sonst nichts.“
„Allein um den zu ärgern, würde ich schon gern ausbrechen wollen und durch den Zaun zurück nach Marokko. Stell dir mal vor, der müsste nach Algier melden, dass die beiden Spione aus seinem Superknast abgehauen sind. Dann ist die Karriere aber ganz schön geknickt.“
„Bin gespannt, was es heute zum Abendbrot gibt, wie spät wird es sein?“
„Ich habe meine Uhr um kurz vor drei in die Holzkiste geworfen, keine Ahnung wie spät es jetzt ist.“
„Gibt es hier eigentlich eine Klingel wie im Krankenhaus, dass Jemand kommt wenn wir was wollen?“

Trotz der scheinbar ausweglosen Situation sind wir gut gelaunt und machen uns über die vielen Fingerabdrücke und die Fotos auf dem Küchenstuhl lustig. Plötzlich wird die Tür aufgeschlossen, zwei Polizisten in Uniform lächeln uns zu und deuten, wir sollen mitkommen. Es geht wieder in den dritten Stock zum karrieregeilen Polizisten im Nadelstreifenanzug.

Unter Arrest

„Der Richter hat entschieden. Ihr werdet nicht inhaftiert, sondern nur unter Arrest gestellt.“
„Worin ist da der Unterschied?“, will Frank wissen.
„Arrest bedeutet, dass ihr jetzt ins Hotel gehen könnt und morgen um 8 Uhr kommt ihr wieder hier zur Polizei. Ihr dürft die Stadt nicht verlassen, aber innerhalb der Stadt könnt ihr euch frei bewegen.“

Unsere Sachen, die wir vor zwei Stunden abgeben mussten, liegen auf seinem Schreibtisch. Wir unterschreiben ein Protokoll, welches besagt, dass alles vollständig und unbeschädigt an uns übergeben wurde und fädeln unsere Schnürsenkel wieder in unsere Schuhe.
Wir gehen auf direktem Weg zu unserem Hotel und untersuchen erst mal unseren Geländewagen. Unser Toyota steht verschlossen auf dem Parkplatz und im Inneren ist alles so, wie wir es verlassen haben. Niemand scheint nach irgendetwas gesucht zu haben. In unserem Hotelzimmer sieht auch alles unberührt aus. Wir werfen uns erst mal aufs Bett.

„Liegt sich doch bequemer als auf der Mauer im Knast.“ Ich atme durch.
„Jo, und jetzt, meinst du die hören uns hier ab?“
„Ich traue denen nicht, wir sollten Wichtiges beim Spaziergang besprechen und hier im Zimmer am Besten gar nichts bereden. Die sollen noch nicht mal wissen, ob wir gut oder schlecht drauf sind.“
„Lass uns wieder zu unserem Lokal mit den leckeren Spießchen gehen.“
„Okay, dann mal los.“ Nach dem Schock brauchen wir was für die Nerven.

Ich stehe auf und werfe einen Blick aus dem Fenster, von dem aus ich den Parkplatz und das Eingangstor des Hotels gut sehen kann.

„Frank, guck mal da, auf der Straße steht ein Polizei-wagen und die bringen jemand hierher.“
„Lass mal sehen.“

Aus dem Streifenwagen steigt ein Mann aus, holt aus dem Kofferraum eine Reisetasche und verschwindet im Hotel. Der Polizeiwagen fährt wieder weg.
Als wir später den Portier fragen, ob neue Gäste gekommen seien, erfahren wir, dass es sich angeblich um einen Geschäftsreisenden handele, der zufällig genau das Zimmer neben uns bezogen hätte.

Der Tierarzt

Aber die Zufälle werden sich an diesem Abend noch häufen. Wir wollen gerade das Hotel verlassen, als wir auf dem Parkplatz in perfektem Englisch von einem wohlbeleibten Mann angesprochen werden: „Ich habe zufällig euer Auto hier auf dem Parkplatz gesehen, ihr kommt aus Deutschland. Ich habe in USA studiert, Tiermedizin. Ich bin zu Besuch hier in Béchar und würde euch gerne zum Essen einladen, um mein Englisch aufzubessern und mehr von Europa zu erfahren.“
Franks und meine Blicke treffen sich. Wir denken beide das Gleiche: „Vorsicht! Polizeispitzel!“
„Okay, wo gehen wir hin?“
„Im Foyer des Hotel warten noch zwei Freunde von mir, ich sage ihnen kurz Bescheid und dann zeige ich euch ein sehr gutes Restaurant.“
Er eilt in die Eingangshalle und sobald die Tür hinter ihm zugefallen ist, flüstert Frank:

„Das ist ja ne tolle Nummer, die er da abziehen will. Wir sollten untereinander nur Belangloses besprechen, wahrscheinlich kann einer von denen sogar Deutsch und die verstehen jedes Wort.“
„Achtung, sie kommen zurück.“

Der Abend verläuft wie erwartet. Der angebliche Tierarzt versucht unser Freund zu werden und erzählt viel Belang-loses aus seinem Leben. Von seiner Zeit in den USA, warum er Tiermedizin studierte, dass er Bier und schnelle Autos möge. Seine beiden Freunde sagen nichts, angeblich sprechen sie kein Englisch.

Frank und ich sind hellwach, passen auf jedes Wort auf, das wir sagen, um ja nicht aus Versehen etwas zu verraten. Stattdessen macht unser Tierarzt einen kleinen Fehler. Er zählt, nicht ganz ohne Stolz, die Sehenswürdigkeiten von Béchar auf, unter anderem nennt er auch die zur Moschee umgebaute Kirche und stellt fest, dass diese sogar in Sichtweite von dem Lokal sei, wo wir gestern unsere Grillspießchen gegessen hätten. Nur haben wir ihm gegenüber leider nie erwähnt, dass wir Spießchen gegessen haben und erst recht nicht wo. Nach dem Essen, beim Tee werden seine Fragen konkreter: „In der Stadt wird viel von euch erzählt, man sagt, ihr seiet einfach aus Marokko über die Grenze gekommen. Wie habt ihr das geschafft?“

Wir tun gelangweilt: „Och, wir sind beim Erg Chebbi einfach nach Süden gefahren und dann war dort plötzlich die Teerstraße, der sind wir gefolgt und in Béchar eingetroffen.“
„Macht die Polizei euch Schwierigkeiten?“
„Nein, die Polizei ist sehr freundlich zu uns und verhält sich völlig korrekt. Es tut uns wirklich leid, dass wir denen solche Umstände machen.“ Und das ist sogar die Wahrheit.
„Habt ihr schon eure Familie oder die Botschaft informiert?“
„Nein, unsere Frauen machen sich immer so schnell Sorgen. Wir melden uns nie von unterwegs, das wissen sie. Und unser Botschafter hat sicherlich Wichtigeres zu tun, als sich um uns zu kümmern. Schließlich haben wir uns die Sache ohne ihn eingebrockt und dann löffeln wir auch alleine die Suppe wieder aus. Zudem gäbe es dann nur noch den offiziellen Weg, sobald unser Botschafter intervenieren würde, ohne ihn haben wir und die Polizei mehr Möglichkeiten.“
„Wie meint ihr das?“, er hört aufmerksam zu.
„So könnten wir uns mit der Polizei arrangieren, anderenfalls würde unser Botschafter mit irgendwelchen hohen Leuten in Algier verhandeln, die wir nicht kennen. Dann hätten wir und die Polizei nur noch Anweisungen zu befolgen. Wir schalten unsere Botschaft nur im äußersten Notfall ein.“
„Aber warum seit ihr einfach so über die Grenze gefahren?“
„In Europa, innerhalb der Union, gibt es keine Grenzen mehr. Für uns sind Grenzen nicht so wichtig und wir dachten, unser Visum reiche aus.“
Er scheint mit unseren Antworten zufrieden zu sein. Kurz vor 22 Uhr meldet sich das erste und einzige Mal sein Freund auf Arabisch zu Wort: „Chef, es ist gleich 10 Uhr, können wir gehen, oder brauchst du uns noch?“ Obwohl Frank und ich nur bruchstückhaft arabisch sprechen, haben wir beide klar gehört, dass sie ihren Freund mit „Chef“ ansprechen.

Er antwortet in barschem arabisch und die Beiden verlassen geduckt das Lokal.

„Was macht ihr morgen?“
„Wir sind um 8 Uhr bei der Polizei, wahrscheinlich wie heute, bis Nachmittags um 17 Uhr. Dann haben wir Feierabend und gehen ins Hotel.“
„Wir können ja morgen Abend noch mal Essen gehen, wenn ihr nichts dagegen habt. Mir hat es sehr gut gefallen, ich würde euch gerne noch mal einladen.“

Wir wollen uns nichts anmerken lassen, also stimmen wir zu. „Okay, wenn wir morgen noch nicht verhaftet sind, treffen wir uns wieder beim Hotel.“
Wir verabschieden uns vor dem Restaurant und gehen in Richtung Hotel, machen jedoch einen kleinen Umweg, um uns in Ruhe unterhalten zu können. Natürlich werden wir von zwei Geheimpolizisten verfolgt. Wir erkennen sie daran, dass sie die gleichen Schuhe tragen, wie die Freunde des Tierarztes und wie der Geschäftsreisende in unserem Hotel, den die Polizei einschleuste. Zudem tragen sie alle einheitlich die gleichen dunklen Jacketts. „Der ist genauso wenig Tierarzt, wie das seine Freunde sind“, beginnt Frank.

„Ja, das denke ich auch, morgen heftet bestimmt die Restaurantrechnung in unserer Mappe bei der Polizei. Mich würde interessieren, woher der weiß, wo wir gestern gegessen haben.“
„Wenn wir durch den Zaun fliehen wollen, sollten wir die Vorbereitungen sehr geheim treffen, wir werden wahrscheinlich schon länger und besser bespitzelt, als wir denken“, vermutet Frank.
„Was meinst du, sollen wir abhauen oder nicht, und wenn ja, wann?“
„Ich finde, wir sollten morgen erst noch mal abwarten und um 8 Uhr bei der Polizei einlaufen. Aber einen Fluchtplan können wir trotzdem machen, allein schon um im Notfall vorbereitet zu sein. Die zwei Stunden Knast haben mir gereicht.“
„Ja, mir auch. Und wahrscheinlich ginge es dann nicht abends auf Polizeikosten ins edelste Restaurant der Stadt, sondern da würde irgendein Fraß zur Klappe reingeschoben.“
„Ja, lass uns besser mal die Flucht planen, aber nicht in unserem Hotelzimmer.“

Um 23 Uhr kommen wir im Hotel an, bitten den Portier, uns wieder um 6 Uhr zu wecken und legen uns ins Bett. Keiner sagt ein Wort, aus Angst, es könne jemand mithören. Mit den Gedanken an die Flucht schlafe ich ein.

Am nächsten Tag das gleiche Spiel. Pünktliches Wecken, Duschen, Rasieren, Parfümieren und einen Tee auf dem Bunsenbrenner, dazu Schokomüsli mit Wasser statt Milch. Schmeckt nicht, aber macht satt.

Die Militärs

Kurz vor 8 Uhr sind wir auf dem Polizeiquartier und wundern uns über die vielen dunklen Limousinen auf dem Parkplatz. Die Chauffeure stehen zusammen, trinken Tee und halten Schwätzchen. Einige putzen den Wagen mit einem trockenen, alten Lappen.

Der Wachmann erwartet uns schon und bringt uns sofort in den dritten Stock ins Büro des karrieregeilen Polizisten, der uns gestern gegenüber Algier als gefangene Spione ausgegeben hat.

An dem runden Mahagonitisch sitzen bereits acht Männer in Militäruniform. Jeder hat zig Orden an seiner raus-gestreckten Brust und macht einen wichtigen Eindruck. Für uns werden zwei Stühle gebracht und schätzungsweise drei Meter vom Tisch entfernt aufgestellt, obwohl noch vier Stühle am runden Tisch frei sind, müssen wir ohne Tisch auskommen. Vorbei mit bevorzugter Behandlung.

Es beginnt ein stundenlanges Verhör. Auf einer detaillierten Militärkarte sollen wir unsere gefahrene Route wieder und wieder zeigen. Frank und ich schauspielern einen Streit. Ich vertrete fest die Meinung, wir seien am Erg Chebbi vorbei und dann immer nach Süden gefahren, während Frank Stein und Bein schwört, erst noch auf der Piste nach Zagora in Richtung Westen gefahren zu sein, bevor wir nach Süden abbogen wären. Also können wir es nicht genau klären. Schade.

Es folgen Fragen nach der Geländeformation. Es war ein Fehler, uns vorher die Detailkarten zu zeigen, so kann ich ohne Probleme das Gelände meiner ausgedachten Strecke beschreiben und Frank das Gelände seiner Strecke ohne zu stocken wiedergeben, wobei wir beide alle Entfernungsangaben so grob schätzen, dass es auch gut die Strecke des anderen gewesen sein könne, die wir be-schreiben.

Weiter folgen Fragen nach marokkanischen Truppenbewegungen oder Fahrzeugen in Grenznähe, nach frischen Fahrzeugspuren und nach Nomadenbewegungen. Dann nach den ganzen Beobachtungen, welche wir auf der algerischen Seite gemacht haben. Das Verhör zieht sich bis mittags.

Kurz vor 12 Uhr müssen wir draußen im Flur auf der Bank Platz nehmen. Dem Wachmann geht es noch schlechter als uns, denn er muss die ganze Zeit vor uns stehen und Wache halten. Auf der Bank gegenüber wartet ein weiterer Mann. Uns fallen seine schwarzen Lederschuhe auf. Es sind die Gleichen, wie sie auch die Freunde des Tierarztes trugen.

Um 14:00 Uhr geht das Verhör weiter. Jetzt sind nur noch vier Militärs anwesend, aber die Fragen drehen sich weiterhin im Kreis, woher und warum, stundenlang. Zum Dienstende gegen 17 Uhr werden wir wieder in unser Hotel entlassen. Morgen um 8 Uhr gibt es die Fortsetzung. Wir sind gespannt, ob sie sich über Nacht neue Fragen ausdenken werden.

Aber erst mal werden wir vom Tierarzt im Foyer schon erwartet. Wieder gehen wir in ein vornehmes Restaurant und bestellen die köstlichsten Dinge, welche die Karte hergibt. Wieder sind zwei Freunde des Tierarztes dabei. Einen kennen wir schon von gestern. Als dem Anderen seine Gabel zu Boden fällt und er sich danach bückt, sehen wir deutlich seine Pistole im Schulterhalfter unter seinem Jackett. Die Schuhe sind natürlich die Gleichen wie sie seine gestrigen Freunde trugen.

Unser Tierarzt will wissen, wie es bei der Polizei war, was sie uns gefragt hätten und was wir geantwortet hätten. Und, natürlich, ob wir auch die Wahrheit geantwortet hätten.

Während des Essens bringt er das Gespräch auf Archäologie, wir haben nur Grundkenntnisse und interessieren uns dafür auch nur am Rande. Er lässt nicht locker, uns ist nicht klar, worauf er hinaus will.

„Ich habe euch ein Buch mitgebracht.“ Er holt das Buch aus einer Plastiktüte und legt es auf den Tisch. „Hier, ihr könnt ja mal reinsehen, es ist von einem französischen Wissenschaftler, der alle prähistorischen Felszeichnungen aufgenommen und katalogisiert hat.“

Wir blättern das Buch durch. Der Aufbau ist einfach. Einer Schwarzweißfotografie einer Felszeichnung, folgt eine Landkarte mit der genauen Fundstelle dieser Felszeichnung und dann ein bis drei Seiten Beschreibung derer, alles auf französisch. Und das Interessante daran: Zufällig sind fast alle Fotografien und somit auch die Landkarten, aus dem Grenzgebiet Marokko/Algerien. Wen wundert das?

Wir blättern in dem Buch umher. Unterhalten uns lange über die Zeichnungen, die aus Südalgerien stammen. Unserem Tierarzt dauert das alles scheinbar zu lang, er nimmt das Buch und schlägt gezielt Zeichnungen aus dem Gebiet Figuig und nördlich davon auf.

„Habt ihr schon mal eine dieser Zeichnungen gesehen?“, will er ungeduldig wissen.
„Nee, ich nicht“, antwortet Frank und auch ich schüttele den Kopf.
„Ich schenke euch das Buch als Erinnerung.“ Wir bedanken uns überschwänglich.

Nach dem Essen lässt er Kaffee bringen und verabschiedet sich kurz darauf. Wir gehen zurück ins Hotel und haben uns an unsere zwei geheimen Schatten, die uns unauffällig folgen, schon gewöhnt.

Deutsche Nomaden der Wüste

Der Morgen des dritten Tages beginnt wie immer mit dem Wecken um 6.00 Uhr durch den Portier. Im Polizeirevier hat man merklich das Interesse an uns verloren. Wir warten drei Stunden im dritten Stock auf der Bank im Flur vor dem Zimmer des Karrierepolizisten. Nichts geschieht. Um 11 Uhr werden wir dann doch noch in sein Büro gebeten und sitzen vor dem großen Schreibtisch. Unsere Mappe liegt auf seinem Tisch und ist inzwischen recht dick gefüllt. Keine Ahnung, was da inzwischen alles zusammen getragen ist.

Er lässt von seiner Sekretärin wieder eine Telefonverbindung mit Algier herstellen. Während wir warten, erkundigt er sich nach unserem Hotel und ob auch alles in Ordnung sei.

Wir bejahen freundlich und sind gespannt, was er heute nach Algier zu berichten hat. Wieder spricht er in perfektem Arabisch und wir verstehen zumindest den einen, alles entscheidenden Satz:

„Nach jetzigem Erkenntnisstand handelt es sich um zwei deutsche Nomaden der Wüste, die aus Versehen über die Grenze gezogen sind.“

Später, als wir wieder erleichtert draußen im Flur auf der Bank warten, lassen wir uns noch oft die Worte auf der Zunge zergehen: „Deutsche Nomaden der Wüste.“

Wie schön das klingt!
Und „Aus Versehen über die Grenze gezogen“. Für diese Formulierung gehört er befördert.

Nach dem er den Telefonhörer aufgelegt hat, bekommen wir erstmals eine detailliertere Information von ihm: „Algier hat kein Interesse an Euch, das Militär hält euch für bedeutungslos, der Provinzgouverneur wird entscheiden, was mit euch zukünftig geschieht. Euer Fall liegt seit heute morgen auf seinem Schreibtisch. Ihr könnt jetzt wieder draußen warten. Sobald ich eine Antwort vom Gouverneur habe, gebe ich euch Bescheid.“
Wir bedanken uns und entschuldigen uns wie immer, für die Mühe, die wir machen. Stunden vergehen. Der Polizist, der die ganze Zeit uns gegenüber stehen muss und nicht auf der Bank sitzen darf, tut uns aufrichtig Leid. Was für ein doofer Job. Unerwartet wird ein Tablett mit einer Kanne Tee und drei Gläsern gebracht. Wir sind eingeladen, eine nette Geste des Karrieregeilen.

Um 4.30 Uhr am Nachmittag müssen wir wieder ins Büro kommen. Die Mitteilung ist knapp, wir brauchen uns nicht setzen: „Der Gouverneur hat entschieden, dass er es nicht entscheidet. Der Richter soll die Entscheidung treffen. Und der Richter hat entschieden, dass es eine ordentliche Gerichtsverhandlung geben wird. Der Termin ist übermorgen um 10 Uhr im Tribunal. Seid pünktlich.“ „Wir sind Deutsche, Pünktlichkeit ist uns angeboren“, entgegnen wir.

Die Idee zur Flucht

„Morgen ist Freitag, die Polizei hat geschlossen, ihr braucht also nicht zu kommen. Morgen ist sozusagen euer freier Tag!“, und als er dies sagt, erkennen wir zum ersten Mal so was wie ein Lächeln in seinem Gesicht. Wir gehen den gewohnten Weg vom Polizeirevier zu unserem Hotel.
„Morgen ist unser freier Tag“, beginnt Frank, „dann könnten wir doch einen Ausflug in die Wüste machen, oder?“
„Die Idee ist gut. Wir könnten in Ruhe unsere Flucht besprechen, ohne das uns jemand abhört und könnten auch mal testen, ob und wo wir aus der Stadt raus kommen.“ „Wir lassen uns wie immer um 6 Uhr wecken und dann fahren wir los, mal sehen wie weit wir kommen.“
„Okay, aber wir lassen alles im Hotelzimmer, wir nehmen nichts mit, das würde uns nur verdächtig machen und der Ausflug wäre schneller beendet als uns lieb ist.“ „Gut, wir packen nur das Geld und die Landkarten ein. Das GPS ist noch im Toyo, oder?“
„Ja, ich habe es in der Türverkleidung des Kofferraumdeckels versteckt.“
„Dann gehen wir heute Abend vielleicht zum letzten Mal zu unserem Grillspießchenrestaurant.“
„Gute Idee, der Grillmeister hat uns bestimmt schon vermisst, die letzten beiden Tage.“
„Ja, aber das Essen auf Kosten der Polizei war auch nicht schlecht.“

Am nächsten Morgen geht alles recht schnell. Um 6 Uhr werden wir geweckt, diesmal keine Dusche, kein Früh-stück, sondern direkt in den Toyo und los.
Um 6.10 Uhr rollen wir durch die leeren Stadtstraßen in Richtung Süden. Wir wollen nach Taghit. Im Rückspiegel ist nichts zu sehen. Kein einziges Auto verfolgt uns. Dann haben wir die Stadt endlich hinter uns. An der Ausfallstraße sehen wir die erste Polizeisperre. Wir verringern das Tempo auf Schrittgeschwindigkeit, um das enge „S“ zwischen den ausgelegten Nagelketten zu durchfahren. Ich winke dem Polizisten freundlich zu und er winkt freundlich zurück. Das war’s.

„Los, gib Gas, es klappt.“

Frank tritt das Gaspedal durch und der Land Cruiser beschleunigt. Mit 100 km/h geht es über die Landstraße durch eine Kieswüste in Richtung Süden. Immer noch ist kein Auto im Rückspiegel zu sehen. Nach einer halben Stunde sehen wir die ersten Sanddünen, auch die Straße ist stellenweise von Sand verweht und nur noch einspurig.

„Da vorne bei der Brücke können wir runter ins trockene Flussbett und durch den Kies ein paar hundert Meter raus in die Wüste. Später können wir im Sand weiter fahren. Kein Mensch entdeckt so unsere Spuren“, schlage ich Frank vor.
„Okay, das müsste klappen.“

Wir fahren im Kiesbett bis wir außer Sichtweite der Straße sind. Das Kiesbett weitet sich und Sand vermischt sich mit dem Kies. Wir ändern die Richtung, verlassen den festen Kiesuntergrund und fahren mehr in den Sand. Der Sand ist weich und die Dünen werden höher. Wir lassen deutlich Luft aus den Reifen und erhöhen so die Aufstandsfläche der Reifen bzw. mindern den Boden-druck. Eine Faustregel lautet : halber Luftdruck und das Auto fährt doppelt so gut im Sand.
Zwischen zwei hohen Dünenkämmen fahren wir im weichen Sand auf eine kleine Anhöhe. Eine Sicheldüne bietet uns einen hervorragenden Lagerplatz. Niemand kann uns sehen, erst wenn er fast vor uns steht. Wir hingegen brauchen nur 20 m vor zu gehen und vorsichtig mit dem Kopf über den Dünenrand zu lugen , um das komplette Tal einsehen zu können. Aber niemand verfolgt oder sucht nach uns.
Ich breite die alte Decke, die Frank bei gelegentlichen Autoreparaturen oder Wartungsarbeiten nutzt, im Sand aus während Frank Tee kocht.
Wir haben 8 Uhr, normalerweise unsere Zeit, bei der Polizei zu erscheinen. Die Sonnenstrahlen vertreiben die Kälte der Nacht und wir fühlen uns frei.
„Klasse, das hat doch super gut geklappt. Wir sind raus aus der Stadt und keiner weiß, wo wir sind Was wollen wir mehr?“, freut sich Frank.
„Morgen ist die Gerichtsverhandlung, dann entscheidet sich, ob Sekt oder Selters.“
„Sekt oder Wasser aus dem Klo, Selters wird’s im Knast nicht geben und den Wasserhahn in Kniehöhe neben dem Klo hast du ja gesehen.“
„Wir könnten dem Richter die Entscheidung leicht machen und Fakten schaffen. Ab durchs Loch und zurück nach Marokko! Scheiß doch auf die paar Klamotten im Hotel.“
„Die Marokkaner können uns gar nichts, es weiß doch keiner, dass wir überhaupt weg waren. Unsere Pässe, die noch bei der Polizei liegen, melden wir als verloren.“ „Ich hol’ mal die Karte, kannst noch mal Tee nachgießen.“

Wir haben detaillierte französische IGN-Karten und amerikanische Fliegerkarten dabei. Die Militärkarten, die man uns beim Verhör vorlegte, waren nicht besser. Ich breite die IGN-Karte auf der Decke aus und wir beugen uns darüber.

„Da sind wir, hier im Erg bei Taghit, ganz schön am Arsch.“
„Ja, als Ausgangspunkt für eine Flucht ist es ganz schön doof.“
„Aber dafür wird uns hier niemand vermuten und suchen“, ich suche nach Vorteilen.
„Um zu unserem Loch zu kommen, müssten wir genau nach Norden fahren und auf halbem Weg liegt die Stadt Béchar, wo alle nach uns suchen werden. Scheiße, Mann.“
„Wir könnten strack nach Westen fahren, durch die Oase Abadla und dann versuchen die Grenze bei Taouz zu überqueren.“
„Keine gute Idee, wir haben denen ja gesagt, dass wir dort wahrscheinlich eingereist sind, die werden auch genau dort auf uns warten.“
„Ja, könntest recht haben.“ Schweigend grübeln wir eine Weile über der Karte.
„Hier, ich hab’s! Wir könnten aber in Abadla die Richtung ändern und im Flussbett des Guir nach Norden fahren, direkt nach Marokko.“
„Sieht gut aus, haben wir denn genug Diesel?“
„Bis Marokko wird es reichen, wenn wir erst mal dort auf der Teerstraße sind, können wir einen Lastwagen stoppen und Diesel abkaufen.“
„Bleibt die Frage offen, ob wir jetzt abhauen oder die Gerichtsverhandlung abwarten sollten?“
„Die Frage der Flucht stellt sich nur hier und jetzt. Wenn der Richter uns verknackt, wird sich keine zweite Chance mehr zur Flucht bieten, dann geht es wahrscheinlich vom Gerichtsaal direkt in den Kerker der Polizei.“
„Allerdings, wenn wir bei der Flucht erwischt werden, wird die Polizei und vor allem der Richter nicht mehr gut gesinnt mit uns sein“, befürchte ich.
„Garantiert nicht. Wenn wir abhauen, dann muss das klappen.“
„Bis jetzt hat doch alles gut funktioniert, sieht man mal vom nicht vorhandenen Einreisestempel ab.“
„Wenn, dann sollten wir hier im Versteck bleiben und Nachts ohne Licht fahren.“
„Vor vier Tagen hatten wir Vollmond, das heißt, der Mond nimmt ab und geht gegen Mitternacht auf. Die Bedingungen zur Flucht sind gut“, schlussfolgere ich weiter.
„Es ist ein schönes Gefühl wieder das Heft des Handelns in der Hand zu haben und nicht von irgendwelchen Gouverneuren, Richtern, karrieregeilen Polizisten oder Tierärzten abhängig zu sein. Wir können wieder selbst Fakten schaffen.“
„Ja, das Gefühl ist klasse, aber eigentlich ist es auch feige. Wir haben den Scheiß provoziert und machen uns dann aus dem Staub.“
„Ja, kann man so sehen, aber ich will lieber feige in die Freiheit als mutig in den Knast.“
„Knast steht ja noch gar nicht fest, dies wäre der schlimmste aller Fälle. Immerhin sind wir ‚Deutsche Nomaden der Wüste, die aus Versehen die Grenze übertreten haben’ und bisher waren alle korrekt und nett.“ „Aber selbst wenn der Ausflug nicht im Knast enden würde, die könnten immer noch den Toyo beschlagnahmen und uns mit dem Flieger nach Hause schicken. Das wäre auch nicht so toll.“
„Okay, das wäre nicht so toll, aber dass wir den Toyo schlimmstenfalls verlieren würden, haben wir bei der Planung einkalkuliert, das war uns ja bewusst und das Risiko wert.“
„Ja, wenn es so käme. Aber jetzt haben wir noch die Möglichkeit, selbst zu handeln und somit die Chance, gemeinsam mit Toyo morgen früh in Marokko zu sein.“ „Okay, wenn du lieber abhaust, dann hauen wir ab. Ich muss morgen früh nicht unbedingt zum Richter, wir können uns auch in Errachidia ein Nomadenfrühstück bestellen, dass der Kellner vor lauter Schlepperei ins Schwitzen kommt“, träume ich.
„Das hört sich gut an, aber so habe ich das nicht gemeint. Wir können auch zum Richter gehen, notfalls halte ich es auch ein paar Wochen bei Wasser und Brot aus.“
„Also, mir ist es egal, entscheide du.“
„Nee, nee, nee, mir ist es eigentlich auch egal.“ Wir sind unentschlossen.
„Dann lassen wir das Los entscheiden. Ich gucke jetzt auf den Kilometerzähler, wenn die letzte Zahl gerade ist, fahren wir heute Nacht nach Marokko, ist die Zahl ungerade, fahren wir heute Abend zurück ins Hotel nach Béchar.“
„Da haben wir schon die Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen und dann machen wir unser Schicksal vom Zufall abhängig?“
„Ja, wir sind schon ganz schön bescheuert.“
„Egal, guck auf den Tacho und dann soll es so sein.“
Ich stehe auf und gehe zur Fahrertür.
„267361.“
„Okay, dann frühstücken wir morgen im Hotel.“
„Ja, aber nicht in Errachidia, sondern in Béchar.“

Ich bin hin- und hergerissen, erleichtert und enttäuscht zugleich.

Am späten Nachmittag fahren wir zurück nach Béchar und tanken den Landcruiser randvoll, man weiß ja nie. Wir sind noch keine fünf Minuten im Hotel, als auch schon zwei Streifenwagen auf dem Parkplatz eintreffen. „Shit, die kommen bestimmt um uns zu holen.“
„Wir haben doch heute unseren freien Tag, was können die bloß wollen? Wir klären jetzt erst mal mit dem Portier unser Frühstück für Morgen.“
An der Rezeption sieht uns der Portier ungläubig an, als wir unseren Wunsch äußern: „Wir möchten für morgen um 7.30 Uhr ein Frühstück bestellen.“
„Kein Problem, möchten Sie Brot mit Marmelade und Tee?“
„Nein, wir wollen Kaffee mit geschäumter Milch! Es ist wichtig, dass die Milch geschäumt ist und nicht nur warm gemacht. Und kein Brot, sondern warme Croissants mit Butter und Marmelade. Orange oder Erdbeere, aber Marmelade, kein Gelee. Zudem möchten wir zwei Omelettes mit Käse, Tomaten und Schinken. Dann zwei große Schalen Obstsalat mit Orangen, Äpfel, Bananen und was es sonst an frischem Obst auf dem Markt gibt, aber keine Feigen. Dazu gezuckerte Schlagsahne“, beendet Frank unsere Wunschliste.

„Und dann noch eine eiskalte kleine Flasche Coca-Cola“, ergänze ich.
„Ja, und für mich eine eiskalte kleine Flasche Tonic“, schließt Frank die Bestellung ab.
„Das alles morgen zum Frühstück?“, die Augen des Portiers sind währenddessen größer und größer geworden.
„Ja, wir müssen morgen zum Richter, es ist unsere Henkersmahlzeit, vielleicht gibt es danach nur noch Wasser und Brot.“
„Ich spreche mit dem Koch, aber in dem Fall wird es sich bestimmt einrichten lassen.“

Drei Polizisten in Uniform und zwei zivil Gekleidete stehen inzwischen neben uns und können sich das Lachen über unsere Bestellung nicht verkneifen.
„So schlimm wird’s ja nicht werden“, meint einer der Zivilen mit einem zuversichtlichen Lächeln. „Aber wo waren Sie heute?“
„Wir hatten heute unseren freien Tag und waren in Taghit im Sand.“
„Sie sollten die Stadt nicht verlassen, dies war eine Auflage für Ihre Unterbringung hier im Hotel. Der Chef ist sehr verärgert darüber.“
„Das war ein Missverständnis! Wir dachten, die Auflage gilt nur an Werktagen, und wir sind ja zurück gekommen. Wird das jetzt Nachteile für uns haben?“, fragen wir mit unschuldigem Blick.
„Wir müssen ein Protokoll darüber anfertigen und der Richter wird es in Ihrer Akte finden. Seien Sie morgen pünktlich.“

Dann verabschieden sich die fünf und fahren vom Hof. Unser Zimmernachbar, der Geschäftsreisende, der mit einem Polizeiwagen anreiste, ist inzwischen abgereist. Wir sind wieder die einzigen Gäste im Hotel. Bespitzelung scheint nicht mehr nötig zu sein.
Wir lassen uns heute eine Stunde später wecken, um 7 Uhr. Viel geschlafen haben wir nicht. Die Nacht war unruhig, meine Gedanken kreisten ununterbrochen um die möglichen Urteile.

Vor Gericht

Duschen, rasieren, parfümieren für den Richter und das Hemd mit den geringsten Flecken. Und dann geht es ins Restaurant des Hotels, wo wirklich alles gedeckt ist, genau so, wie wir es am Abend vorher bestellt hatten. Kaffee mit geschäumter Milch, Omelette mit Käse, Tomaten und Rührei, nur statt des Schinkens gibt es Hammelkotelett. Leckeren Obstsalat aus Orangen, Äpfel, Bananen und Schlagsahne wird auch gereicht. Wir schlemmen.

„So jetzt aber los, wir müssen noch zahlen.“
„Warte, wir zahlen erst nach dem Richterspruch und checken dann erst aus. So haben wir noch mal einen Vorwand, ins Hotel zu gehen und können vielleicht doch noch fliehen.“
„Gute Idee, auch wenn die Chance noch so klein ist.“

Wir sind eine halbe Stunde zu früh im Gericht. Zu spät kommen wollten wir auf keinen Fall. Der Saal füllt sich mit Menschen, bestimmt 40 oder 50 Personen. Wir sitzen mitten drin.

„Wahnsinn, die halbe Stadt ist versammelt, um zu sehen wie zwei Deutsche verknackt werden“, wundert sich Frank.
„Die haben alle nichts zu tun, wir machen denen hier die Volksbelustigung. Das ist für die wie Kino.“

In der zweiten Reihe entdecke ich unseren netten, älteren Polizisten vom ersten Abend mit den weißen Haaren. Punkt 10 Uhr läutet jemand eine Glocke, die vorne am Pult liegt. Alle Anwesenden erheben sich. Durch eine Seitentür treten sieben Männer in schwarzer Richterrobe ein und eine Dame in dunkelblauem Nadelstreifenkostüm. Die Dame setzt sich an einen kleinen Tisch und führt das Protokoll. Fünf der Männer, wie sich später herausstellt, der Richter mit vier Beigeordneten, stellen sich hinter das Pult. Die beiden verbleibenden Männer stellen sich jeweils links und rechts des Richterpults an zwei weitere kleine Schreibtische. Auf ein Zeichen hin setzen sich alle im Saal wieder.

Der Richter eröffnet die Verhandlung. Wir verstehen nichts, alles findet auf arabisch statt. Einen Übersetzer haben wir nicht. Der Richter nennt zwei Namen und daraufhin erheben sich zwei Personen im Saal. Der Mann am linken Pult redet heftig auf den Richter ein, der am rechten Pult unterbricht ihn und redet nun ebenfalls. Es entwickelt sich ein Streitgespräch zwischen den beiden Männern. Wir verstehen Bruchstücke. Es geht um einen Verkehrsunfall. Die beiden streitenden Männer sind Anwälte und die zwei stehenden Personen im Zuschauersaal die Betroffenen.

Nach 15 Minuten greift der Richter zur Glocke und läutet. Es ist totenstill im Saal. Der Richter und die vier Beigeordneten erheben sich und verlassen den Raum. Nach fünf Minuten ertönt die Glocke erneut, wieder erheben sich alle und der Richter tritt mit seinem Gefolge zurück in den Saal. Im Stehen erfolgt die Urteilsverkündung.

Als nächstes geht es um einen Viehhandel. Soweit wir verstehen, will oder kann der Käufer des Tieres nicht den vereinbarten Kaufpreis zahlen. Die Anwälte sind die selben wie im ersten Fall. Die Prozedur mit Glöckchen, Beratung und Urteil wiederholt sich.

„Das ist wie beim Kasperletheater“, flüstere ich Frank zu. „Ja, bin mal gespannt, wann der Polizist auf die Bühne kommt“, flüstert Frank zurück.
„Bestimmt bei unserem Fall.“

Als nächstes geht es um eine Scheidung. Jeder Fall wird in 15 Minuten abgehandelt.

„Die sind gar nicht wegen uns hier, die haben alle was ausgefressen und werden verdonnert“, mutmaßt Frank.

Der nächste Fall, doch niemand steht auf. Der Richter wiederholt die Namen und es klingt nach Kosch und Pipek. Wir richten uns auf und alle Anwesenden starren uns an. Der Richter hat eine dicke Akte vor sich. Der Anwalt am linken Pult übernimmt unsere Verteidigung und streitet heftig mit dem Richter. Wir verstehen kein Wort, kennen noch nicht mal unseren Verteidiger, der jetzt unsere Haut retten soll.

Wir werden kein einziges Mal angehört. Nach 15 Minuten erteilt der Richter uns das letzte Wort und wir dürfen uns auf französisch oder englisch äußern.
Vorher hatten wir abgesprochen, dass wir ganz kleine Brötchen backen würden, uns als naive Europäer darstellen, alle Schuld auf uns nehmen und uns ständig für die Mühe, die wir verursacht haben, entschuldigen würden. Frank beginnt auf französisch:

„Zum Schluss können wir uns nur für unser Verhalten entschuldigen, es tut uns Leid, dass wir der Polizei und dem algerischen Staat soviel Mühe und Unannehmlichkeiten bereitet haben. Wir möchten uns auch für die zuvorkommende und freundliche Behandlung seitens der Polizei bedanken und bitten um eine milde Strafe.“

Ich wiederhole das Ganze auf Englisch und dann ertönt auch schon die Glocke und der Richter verschwindet mit seinem Gefolge.

Die Beratung dauert etwas länger, fast zehn Minuten, dann ertönt wieder die Glocke. Alle erheben sich und der Richter verkündet das Urteil. Wir verstehen kein Wort und er wiederholt es auf Englisch:

„Drei Monate Gefängnis, anschließende Abschiebung.“

Wir sind geschockt.

„Wir hätten doch abhauen sollen, statt uns auf diesen Scheiß hier einzulassen“, geht es mir durch den Kopf und Frank denkt bestimmt ähnliches.
Frank fasst sich als erster und in einem wütenden aber bestimmenden Ton sagt er zum Richter: „Wir möchten ein neues Verfahren, wir möchten einen Anwalt, den wir uns aussuchen und mit dem wir vorher reden können! Wir fordern einen Übersetzer während der gesamten Verhandlung und wir wollen vor der Verhandlung unseren Botschafter informieren! Zudem denken wir, dass in dem vorliegenden Urteil nicht genügend berücksichtigt wurde, dass wir ein gültiges Visum hatten und wir uns bei der Polizei freiwillig gemeldet haben. Unser Vergehen besteht lediglich im falschen Ort der Einreise.“

Im Saal wird getuschelt und gemurmelt. Wieder starren uns alle an. Der Richter läutet ohne was zu sagen die Glocke und verschwindet wieder mit seinen Beisitzern. Es geht schnell, nach knapp zwei Minuten sind sie zurück. Das Urteil wird abgeändert:

„Drei Monate Gefängnis auf Bewährung, Bewährungszeit drei Jahre, sofortige Abschiebung in ein Land unserer Wahl. Alle Kosten für Gericht und Anwalt sind von uns an die Staatskasse zu zahlen.“

„Wir nehmen das Urteil an, wenn wir mit unserem Auto nach Marokko abgeschoben werden“, entgegne ich dem Richter.

Der Richter nickt uns zu und läutet die Glocke heftiger, scheinbar das Zeichen, dass die Verhandlungen beendet sind, denn alle verlassen den Saal. Es ist 12 Uhr und jetzt geht alles ganz schnell. Am Ausgang passt uns der ältere weißhaarige Polizist ab und erklärt uns kurz das weitere Vorgehen:

„Meine beiden Mitarbeiter dort“, er zeigt mit dem Kopf auf zwei Männer in Anzügen, unter deren Jackett man schon von weitem die Pistolen abgemalt erkennen kann, „zeigen Ihnen den Weg zur Bank und zur Staatskasse. Anschließend fahren sie mit Ihnen ins Hotel und holen Ihre Sachen. Ich bereite inzwischen alle Schritte für die Abschiebung vor. In zwei Stunden werden Sie zur Grenze gebracht.“

Es geht im Laufschritt zur Bank, doch wie viel Geld sollen wir eintauschen? Wir haben keine Ahnung, was die Gerichtsverhandlung und der Anwalt gekostet haben und was das Hotel kosten wird.

„Wir müssen erst zur Staatskasse und dem Hotel und nach den Kosten fragen, dann zur Bank, Geld tauschen, und dann noch mal zu Staatskasse und zum Hotel um zu bezahlen“, macht Frank dem Polizisten klar. Der ist clever und versteht das Problem sofort. Und Entscheidungsgewalt hat er auch. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Bankmanager und dem Kassierer bekommt er gegen Unterschrift ein Bündel Geldscheine ausgehändigt.

Inzwischen steht vor der Bank ein Polizeiwagen und wir fahren zur Gerichtskasse. Umgerechnet sind 15,- Euro pro Person für Gericht und Anwalt fällig. Wir hatten mit deutlich mehr gerechnet.

Im Hotel sind 120,- Euro fällig, davon war das Frühstück die teuerste Leistung, die wir in Anspruch genommen hatten. Zurück zur Bank. Der Polizist gibt das restliche Geld dem Kassierer zurück und wir zahlen die Differenz.

Jetzt heißt es Beeilung, denn die zwei Stunden sind bald um und wir müssen noch unseren Toyo vom Hotelparkplatz befreien.

Doch vor unserer endgültigen Abreise gehe ich noch mal zur Rezeption und frage den Portier: „Wer ist eigentlich der ältere Herr mit den weißen Haaren, der uns am ersten Abend hier her brachte, Tee ausgegeben hatte und dann selbst keine Zeit hatte, zu bleiben?“

„Das ist der Chef der Geheimpolizei“, beantwortet er meine Frage.

Die Abschiebung

Als wir auf den Polizeihof fahren, trauen wir unseren Augen nicht. Der Konvoi, welcher uns nach Marokko begleiten soll, besteht aus drei Toyota-Landcruiser Pick-ups vom Militär. Alle Fahrzeuge sind mit jeweils sechs schwer bewaffneten Soldaten besetzt. Dazu ein Land-Cruiser Station in dunkelblauer Farbe von der Polizei und weitere zwei normale Streifenwagen. Die Abschiebung soll im 120 km entfernten Beni Ounif erfolgen.

Wir machen uns mit unseren sechs Begleitfahrzeugen auf den Weg. Mit Blaulicht und Sirene jagen die beiden Streifenwagen voraus, gefolgt von den Militärgeländewagen. Hinter uns drängelt der dunkelblaue Polizei-Toyota. Es geht in atemberaubender Geschwindigkeit durch die Stadt. Rote Ampeln, Verkehrsschilder oder Fußgänger, nichts ist von Bedeutung.

Am Stadtrand stoppen die beiden Streifenwagen und kehren um. 20 km später stoppt der Konvoi an einem Militärcheckpoint. Wir wundern uns über die massive Straßensperre und die beiden Panzer, welche schussbereit am Straßenrand in Deckung stehen. Die Soldaten steigen von ihren Pick-ups und ziehen kugelsichere Westen an. „Was ist hier so gefährlich?“, frage ich den Polizisten am Steuer des Land Cruisers hinter uns. Dieser hatte ebenfalls schon seine kugelsichere Weste angezogen.

„Wir fahren jetzt durch ein gefährliches Gebiet. Terroristen treiben sich hier herum und verüben Anschläge“, ist seine knappe Antwort.
„Brauchen wir denn keine solche Westen?“, frage ich weiter. „Nein, wir sind ja zu eurem Schutz dabei.“
„Inschalla!“, murmele ich undeutlich.

Ab jetzt fahren wir mit Vollgas über die Landstraßen und die Polizei im Rückspiegel macht Zeichen, noch schneller zu fahren.

„Die spinnen doch“, ist die Reaktion von Frank. Kurz vor 4 Uhr am Nachmittag erreichen wir die Grenzstation. Rechts bei den Grenzbaracken stehen acht Mannschaftswagen des Militärs. Dazu mehr als ein Dutzend Geländewagen. Mehr als 100 Soldaten haben den vor fünf Tagen noch unüberwindbaren Graben an einer Stelle zugeschaufelt. Eine schweißtreibende Angelegenheit, alles nur wegen uns.

Im Schritttempo werden wir zu einer Baracke geleitet. Ein Offizier bietet uns Tee an. Seine Brust ist zu schmächtig für die ganzen Orden, die man ihm angehangen hat. Jetzt bekommen wir unsere Pässe ausgehändigt und bei einem letzten Verhör müssen wir Rede und Antwort stehen. Es wiederholt sich das Befragungsschema der letzten Tage.

„Wo seit ihr über die Grenze?“ und „Warum?“
„Sollen wir ihm die Koordinaten vom Loch im Zaun nennen?“, fragt Frank, „uns kann jetzt nichts mehr passieren und nutzen können sie uns auch nicht mehr.“ „Ich würde bei unserer Version bleiben und ihnen nichts sagen. Sonst glauben sie, wir hätten sie die ganze Zeit an der Nase herumgeführt und im Nu sind wir wieder unter Spionageverdacht. Jetzt die Wahrheit sagen, macht alles komplizierter.“
„Hast recht, also bleibt es bei Nomaden der Wüste.“

Der Offizier fragt nicht weiter nach und lässt uns nach der Teerunde gehen.

Wir treten aus der dunklen Baracke ins grelle Sonnenlicht und sind geblendet. Als sich meine Augen an das Licht gewöhnt haben, erkenne ich den netten, älteren, weiß-haarigen Chef der Geheimpolizei aus Béchar. Lächelnd kommt er auf uns zu.

„So, die Sache ist nun abgeschlossen, in wenigen Minuten sind Sie in Marokko. Es tut mir leid, dass Sie unser Land nicht in besserer Erinnerung behalten. Aber vielleicht besuchen Sie uns noch mal, Sie sind jederzeit gerne eingeladen.“

„Sie irren sich, wir behalten ihr Land in sehr guter Erinnerung. Man hat uns immer völlig korrekt behandelt und wir selbst haben die Probleme verursacht, nicht Sie. Im Gegenteil, es tut uns leid, dass Sie nun einen so schlechten Eindruck von Deutschen erhalten haben.“

„Nein, Sie haben keinen schlechten Eindruck hinterlassen, im Gegenteil. Viele, mich eingeschlossen, beneiden Sie um Ihren Mut. Keiner von uns hätte sich über die Grenze gewagt. Und wir haben gesehen, dass Deutsche auch die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Als Sie den einen Morgen verschwunden waren, dachten viele in der Polizei, Sie seien geflohen. Als Sie aber am Abend zurück gekommen sind, haben Sie großen Respekt von mir erhalten und mich nebenbei aus einer misslichen Lage befreit, denn ich hatte anfangs veranlasst, Sie aus dem Gefängnis ins Hotel unter Arrest zu stellen.“

„Es freut uns, dass Sie es so sehen, aber letztendlich war es mehr ein naiver Gedanke von uns, als wahrer Mut.“ „Wie dem auch sei. Ich würde Sie zum Abschied gerne zum Tee einladen. Ich habe zwar wieder keine Zeit, aber diesmal nehme ich sie mir, es wäre eine große Ehre für mich, wenn Sie die Einladung annehmen würden.“

„Die Ehre ist ganz auf unserer Seite.“

Wir gehen zurück in die Baracke, der Geheimdienstchef wechselt ein paar Worte mit dem Offizier, dieser verlässt daraufhin die Hütte. Wir hören, wie draußen ein Geländewagen mit hoher Geschwindigkeit davon rast.

Wenige Minuten später bringt ein Soldat ein Tablett mit Teegläsern und einer Kanne frisch gekochtem Tee. Wir unterhalten uns über unsere Familien, unseren früheren Reisen in die algerische Sahara und den Reiz der Wüste. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging.

Irgendwann kommt der Geländewagen zurück und macht eine Vollbremsung vor unserer Baracke. Ein Soldat bringt zwei große Pakete. Der nette Geheimpolizist entfernt das Papier und zum Vorschein kommen 15 gegrillte Fleischspieße. Im anderen Paket ist eine große Schale Pommes.

„Ich habe etwas zu Essen kommen lassen. Im Protokoll habe ich gelesen, dass Sie am liebsten gegrillte Fleischspieße mit Pommes essen. Dazu kalte Cola.“

Im gleichen Moment kommt der Soldat erneut zur Tür herein, diesmal mit drei gekühlten Flaschen Cola.

„Leider sind die Spießchen aus Beni Ounif und nicht von Ihrem Restaurant gegenüber der ehemaligen Kirche.“ „Sie sind sehr gut über uns informiert, der Tierarzt ist bestimmt einer ihrer Mitarbeiter?“
„Ich kenne keinen Tierarzt, aber es arbeiten viele Leute für mich. Lassen Sie uns nicht vom Geschäft reden.“ Nach dem Essen fällt der Abschied fast schwer.
„Wenn Sie wieder mal in Béchar sind, kommen Sie mich besuchen, Sie sind meine Gäste.“

Unser Lächeln muss gequält ausgesehen haben, denn er lacht: „Nein, nicht Gäste der Polizei, meine privaten Gäste.“

Wenige Minuten später sind wir über den Graben in Marokko.

This article has 10 comments

  1. Sigg

    eine sehr schöne,eindrucksvolle geschichte die
    ja zum glück gut ausgegangen ist !

    besten gruss
    siggi109

  2. Armin

    Danke, eine ganz spannende Geschichte. Ich hab euch von Anfang bis Ende begleitet. Die Spieße, die etwas kalten Pommes und die kalte Cola waren ganz hervorragend ?

  3. Fritz Daum

    Ach war das schön zu lesen, auch wenn die Jungs schon ganz schön abgefahren waren. Ich war 1980 mit einem Freund nach dem Abitur auf einer deutschen Baustelle in Algerien jobben (Anreise über Italien und Tunesien). Auch damals war unklar, ob die Grenze rüber nach Marokko offen ist oder nicht. Wir hatten es einfach probiert und kamen damals klaglos rüber. Ist aber immer spannend, so ins ungewisse zu fahren… Hat aber nicht mit so viel – man muss schon sagen – Dummheit zu tun, wie bei den beiden Toyo-Fahrern. Gut, wir waren auch nur im T2 unterwegs, hatten dann aber noch super spannende Wochen in Marokko, bevor wir zum 1.10 dann bei der Bundeswehr einrücken durften.

  4. Anne

    Eine spannende Geschichte, die ich teilweise fast bildlich vor mir sehen konnte, weil wir vor einer Woche von Figuig über die N10 direkt an der Grenze zu Algerien entlang nach Tinghir gefahren sind. Laut Google Maps ging die N10 teilweise durch algerischen Staatsgebiet, was in der Praxis dann aber nicht der Fall war.

  5. Marc

    Was für eine tolle Geschichte.

    Trotz einer Notlüge wegen der Einreise Route, waren die Erzählenden unter dem Strich ehrlich und sind hin gestanden.

    Es wäre wünschenswert, wenn sich Ehrlichkeit überall so auszahlen- und derartige Anerkennung auslösen würde.

    Danke für die Zeilen

    Marc

  6. Felix

    Tolle Story, (wie immer) klasse geschrieben. Und es wird noch bildhafter, wenn man die Lokalitäten selbst noch kennt, aus Zeiten, wo man noch legal über die ein oder andere Grenzstation ein- bzw ausreisen konnte.

  7. JHB

    Geile Geschichte!

  8. Rose Marie Jotterand

    Spannend erzählte Abenteuerreise von zwei ‚deutschen Nomaden der Wüste‘, die ja schon das Risiko leicht jungenhaft gesucht haben.

    Beeindruckt hat mich, wie korrekt und meist höflich die Beamten Euch behandelt haben.

    Das habe ich aus den 70iger Jahren noch anders in Erinnerung.

    Besonders packend fand ich die Geschichte natürlich auch, weil ich die Örtlichkeiten von meinen damaligen Sahara-Reisen her kenne. Vor 50 Jahren war ich das erste Mal in dieser einmaligen Wüste.

  9. Joggl

    Hammer! Vielleicht gibts eine Neuauflage von den Reisegeschichten?!

  10. Carsten R. Hoenig

    Feine Geschichte, Danke für die kurzweilige Zeit, die ich mit dem Lesen verbracht habe …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert